Votum beim ESC ist klare Haltung gegen autoritäre Politik
Der Sieg für die Ukraine beim Eurovision Song Contest 2022 in Turin ist ein politisches Zeichen in einem doch eigentlich unpolitischen Wettbewerb, findet Jörg Seisselberg in seinem Kommentar.
Das Ergebnis der Abstimmung im Finale lässt daran keinen Zweifel. Es war kein Televoting darüber, ob ein Lied schöner ist als das andere. Die Entscheidung des Publikums beim ESC ist eine politische Botschaft - und zwar eine mit dem größtmöglichen Wumms. Nie in der fast 70-jährigen Geschichte des Wettbewerbs hat ein nationaler Beitrag so viele Televoting-Stimmen erhalten wie das ukrainische Kalush Orchestra mit ihrem Titel "Stefania". Nie war die Abstimmung so politisch aufgeladen.
Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Der Song hat alles, um beim ESC erfolgreich zu sein. Es gibt gute Gründe, für ihn zu stimmen, weil einfach die Musik gut ist. Das haben die 39 Jurys der Teilnehmerländer getan. Sie votierten fachlich - und belohnten die Ukraine bereits mit einem Platz in der Spitzengruppe.
ESC-Votum ist eine europaweite Solidaritätsdemonstration
Die Zuschauerinnen und Zuschauer beließen es nicht dabei. Ihr Votum war eine europaweite Solidaritätsdemonstration mit der Botschaft: Die Ukraine ist nicht alleine, die Menschen von Island bis Griechenland, von Finnland bis Portugal stehen hinter der angegriffenen Nation. Die europäische Politik hat in den vergangenen Wochen viele Unterstützungsmaßnahmen für die Ukraine beschlossen. Die größte Musikshow der Welt wurde jetzt zum Sprachrohr der Bevölkerung, die ESC-Bühne zur politischen Plattform. Weil es in diesen Zeiten auch nicht anders sein kann.
Vieles, was sich vorher noch als unpolitisch geben konnte, ist jetzt zwangsläufig politisch. Oder mag sich jemand vorstellen, dass alle beim ESC so getan hätten, als existiere der Krieg in der Ukraine nicht und man könne mit Glitter und Glitzer einfach so weitermachen? Wenn Menschen in Europa in Bunkern leiden, wäre es geradezu ein Skandal gewesen, auf der wichtigsten Musikbühne des Kontinents fröhlich Lieder zu trällern, als sei nichts geschehen.
ESC: Klare Haltung gegen autoritäre Politik
Zum Glück war es anders. Teilnehmer wie der Deutsche Malik Harris zeigten, dass sie der Krieg nicht gleichgültig lässt - was bereits in den Tagen vor dem Finale in Turin zu spüren war. Der Ukraine-Krieg spielte in fast allen Pressekonferenzen und bei zahlreichen Auftritten im Fan-Village eine Rolle, auch auf Empfängen und Side-Events. Überraschend? Nein. Vielmehr logisch und erwartbar. Weil es - den Vorschriften zum Verbot politischer Statements zum Trotz - dem Geist des ESC entspricht.
Einen Geist, den die bunte Fangemeinde in den vergangenen Jahren etabliert und verteidigt hat. Dank ihnen steht der ESC seit vielen Jahren für Bürgerrechte, für Diversität, für eine klare Haltung gegen autoritäre Politik und Unterdrückung. Beim ESC 2019 in Israel beispielsweise hat es Solidaritätsgesten für Palästina gegeben. Die Unterstützung für die Ukraine steht in dieser Reihe, fiel nur um ein Vielfaches kraftvoller aus.
Kalush Orchestra: Ukrainische Kultur lebt
Bleibt die Frage: Was bringt es? Was bringt in einem Krieg ein Sieg einer Musikgruppe, wenn nicht Abstimmungspunkte, sondern Waffen gebraucht werden? Eine Antwort hat der Bandleader des Kalush Orchestras, Oleh Psiuk gegeben. Mit dem Krieg gegen die Ukraine, meinte er, solle auch die Kultur des Landes zerstört werden - in Turin habe man gezeigt, dass die ukrainische Kultur lebt. Der Ausgang des ESC 2022 macht deutlich: Die Menschen in Europa wollen, dass dies auch so bleibt.