"Träumen darf man ja noch ein bisschen"
Ralph Siegel wollte zunächst kein Interview geben, weder mir noch anderen. Er will, sagte er, nur durch seine Arbeit wirken - also dieses Jahr wieder durch einen ESC-Beitrag. San Marino repräsentiert er, wie im Vorjahr performt von Valentina Monetta, mit einem eher balladesken Stück: "Crisalide". In Wettbüros und in Fanforen wird das Lied gut bis sehr gut bewertet, eine Finalteilnahme, die erste San Marinos überhaupt, winkt offenbar. Schließlich einigen Siegel und ich uns via Facebook auf schriftliche Fragen - die er akribisch beantwortete und nur freigegeben wissen will, wenn sie redaktionell nicht mehr zu seinen Ungunsten verändert werden. Er habe schlechte Erfahrungen gemacht mit Aussagen, die verkürzt worden seien.
Herr Siegel, freuen Sie sich auf Malmö?
Ralph Siegel: Natürlich freuen wir uns auf Malmö - es ist eine fröhliche und herzliche Stadt, und in Schweden haben wir uns immer sehr wohl gefühlt. Die Menschen sind freundlich, und schöne Golfplätze gibt es auch noch. Immerhin werden wir ja zwölf Tage dort sein. Das ist schon ziemlich lang im Vergleich mit früheren Veranstaltungen, etwa der 80er- und 90er-Jahre. Da war das zirka eine Woche.
Sind Sie erfreut, abermals beim ESC dabei zu sein?
Siegel: Ich glaube, das ist eine Scherzfrage. Wer mich kennt, weiß doch genau, dass ich den Grand Prix - oder den ESC, wie er heute heißt - seit 40 Jahren liebe. Der ESC gibt Sängern und Autoren die heutzutage fast einmalige Gelegenheit weltweit, ihre Lieder vorzutragen - und das in einem grandiosen internationalen Rahmen. Ich hatte das Glück, beim ESC große Karrieren zu starten und ich bin guten Mutes, auch der wunderbaren Valentina Monetta ihren internationalen Weg zu ermöglichen - das allein ist schon eine große Freude. Ich bin mehr als glücklich und dankbar.
Welcher Name ist Ihnen lieber: Grand Prix d´Eurovision - wie früher - oder Eurovision Song Contest?
Siegel: Ganz ehrlich gesagt fand ich den Namen Grand Prix sehr schön - bei der Formel 1 hat man ja auch den "Großen Preis" im Namen beibehalten. Anderseits besagt natürlich Eurovision Song Contest deutlich und genau, um welchen Preis es sich handelt. Ich fand es aber schon immer ein bisschen schade, dass man nicht auch - wie in der Formel 1 oder bei Olympischen Spielen - die Zweiten und Dritten auszeichnet und sei es nur mit einer kleinen Medaille, wäre doch mal eine Anregung.
Hätten Sie früher, etwa bei Ihrem internationalen Debüt 1974 für Luxemburg, gedacht, dass der ESC einmal ein so großes Ereignis werden würde?
Siegel: Soweit mich meine Erinnerung nicht trübt, war der Grand Prix in den 70er- und 80er-Jahren, was die Zuschauerzahlen betrifft, weitaus größer. Man sprach damals von mehr als 600 Millionen und mehr Zuschauern weltweit. Durch die Vielzahl der heutigen Programme hat sich die Einschaltquote eher verringert - nicht nur in Deutschland, sondern eben in fast allen Ländern. Natürlich ist durch die Erweiterung auf etwa 40 Länder der Rahmen größer geworden, und das Internet spielt eine eigene neue große Rolle im Vorfeld des ESC.
Ich persönlich fand damals reizvoller, dass die Lieder im Finale "uraufgeführt" wurden, denn so gingen alle Teilnehmer mit den selben Erwartungen an den Start und wurden, mit Ausnahme der Londoner Wettbüros, nicht im Vorfeld bewertet und auf- oder abqualifiziert. Es ist bestimmt nicht einfach, am Austragungsort fröhlich anzukommen und zu bestehen, wenn man bereits in allen Vorab-Votings im Internet an untersten Stellen gehandelt wurde. Aber die Zeiten haben sich eben geändert, vieles hat Vor- und Nachteile.
War es früher beim ESC besser?
Siegel: Nicht besser - einfach anders. Das Orchester spielte live und somit waren auch die Fehlerquoten noch größer. Es gab nur eine Jury und Deutschland ging noch mit deutschen Liedern an den Start. Ich war 1974 in Brighton, als ich mit Ireen Sheer den vierten Platz belegte, gerade mal 29 Jahre alt und bin heute fröhliche 67, natürlich weitaus erfahrener als damals. Über 40 Jahre sind schon eine ganze Menge an Liedern, Künstlern, Produktionen und damit verbundenen Reisen und Unternehmungen. Das heißt auch immer wieder sein Maximum zu geben – Menschen im Umfeld zu motivieren und zu begeistern, auch Rückschläge und Misserfolge zu verarbeiten. Natürlich wird keiner jünger, aber wie Enzo Ferrari sagte, "das beste Auto, das er je gebaut hat, sei stets das nächste" - so gebe ich auch immer wieder mein Bestes - mehr kann man ja nicht tun.
Sie sind häufig kritisiert worden - nicht als Person, aber für einige Ihrer Lieder. Und Sie genießen wegen sehr vieler anderer Lieder einen mächtigen Respekt in vielen Ländern Europas. Ist Ihnen das wichtig?
Siegel: Ich hatte mein Leben lang Respekt vor Leistung auf allen Gebieten, und wenn der eine oder andere meine Lebensleistung respektiert, freut mich das natürlich. Der "Echo", den ich 2007 für mein Lebenswerk erhielt, hat mir viel gegeben, aber wichtiger sind mir, ehrlich gesagt, viele andere Dinge im täglichen Leben. Kritik ist für mich immer wichtig gewesen, solange sie konstruktiv und ehrlich gemeint ist.
Boshafte und beleidigende Verbalakrobatik finde ich teilweise einfach unangebracht, denn Lieder sind auch Geschmacksache. Der Rock’n‘ Roller oder der Heavy-Metal-Fan haben eben andere Vorlieben als der Fan von Peter Alexander, Katja Ebstein, Eros Ramazzotti oder auch der grandiosen Loreen. Der Unterschied zu Deutschland, guckt man sich andere Länder an, ist allerdings, dass man die verschiedenen Musikgeschmäcker akzeptiert und sich gegenseitig achtet und leben lässt.
Welche ESC-Jahre erinnern Sie besonders intensiv und gerne - etwa den von 1979, als sie mit Dschinghis Khan in Jerusalem waren?
Siegel: Jerusalem hinterließ bei mir immer einen bleibenden und ernst zu nehmenden Eindruck in jeder Hinsicht. "Dschinghis Khan" ist in Israel wie ein israelisches Volkslied und war auch der Anfang einer Weltkarriere dieser damals von mir kreierten Gruppe. Besonders schön war es aber auch, als wir mit Sürpriz mit "Reise nach Jerusalem" 1999 den dritten Platz erreicht hatten.
Wenn man so auf 40 Jahre zurück blicken darf, kommen natürlich viele schöne und intensive Erinnerungen wieder zum Vorschein. 1982 Harrogate und Nicole, 1987 Wind und "Lass‘ die Sonne in Dein Herz", "Theater" 1980 mit Katja und die Pantomimen, 1981 Lena Valaitis und "Johnny Blue" oder 1994 meine Lieblinge Mekado, die in Dublin dann leider "nur" Dritter wurden. Aber ich erinnere auch an den Oberstress 2006 mit Six4one oder 1985 Children Kinder Enfants, in dem ich jeweils sechs Künstler aus sechs Nationen auf die Bühne stellte. Einmalige Erfahrungen, die mir sofort in den Sinn kommen.
Am traurigsten waren meine Erlebnisse Anfang 2000 mit der wunderbaren Corinna May. "I Believe In God" war eines meiner schönsten Lieder und hatte aber gegen "Wadde hadde dudde da" von und mit Stefan Raab keine Chancen. Im nächsten Anlauf mit "I Can’t Live Without Music" gingen wir nach all den positiven Voraussagen in ganz Europa dennoch entsetzlich unter. Es hat mir damals fast all den Mut genommen, je noch mal anzutreten, aber mein Herz hing einfach weiter an dieser Veranstaltung und ihrem einmaligen Flair.
Wie kam es zur Zusammenarbeit mit San Marino? Kannten Sie diesen Flecken Erde, bevor Sie für dieses Eurovisionsland tätig wurden?
Siegel: Schon als kleiner Junge sammelte ich Briefmarken, und da war ganz besonders San Marino angesagt. Da ich seit meiner Kindheit mit meinen Eltern durch Italien gereist bin, ist auch San Marino immer ein besonders netter Ausflugsort gewesen. Das kleinste Land Europas mit grade mal 35.000 Einwohnern, aber ein paar hervorragenden Musikern und besonders netten Leuten.
Manche Dinge ergeben sich aber durch Zufall. Vor zwei Jahren schrieben Mauro Ballestri und ich einen Song für Adriano Celentano und hatten an einem Abend die Idee, ihn statt für Italien, das ja seinen ESC-Vertreter immer über das San Remo Festival ermittelt, in San Marino einzureichen. Leider wurde daraus nichts, denn der gute Adriano beziehungsweise seine Frau Claudia Mori meinte, er würde keinen Wettbewerb mehr machen - und wenn, dann würde er nur für Italien antreten.
Kurzerhand boten wir dann den wirklich fantastischen italienischen Demosänger unseres Liedes in San Marino an. Irgendwann rief mich dann mein Freund Jose Santana an, der selbst dort einreichen wollte und meinte, dass ich doch wissen müsste, dass nur ein Künstler aus San Marino eine Chance hätte, und so schickte er mir die Fotos und Demos einer Sängerin aus San Marino, die dann unsere erste Version von "Facebook" sang - mehr wurde aber nicht daraus.
Der Rest ist ganz einfach nachzulesen. Der Song gefiel in San Marino, und Valentina Monetta sang am Ende ihren ersten Grand Prix Beitrag. Nachdem wir leider den Titel ändern mussten, war die Sache sowieso so gut wie gelaufen, doch ich wollte nicht, dass San Marino disqualifiziert wird. Nach dem zu erwartenden Misserfolg - statt "Facebook" nun "Uh oh oh oh oh" zu singen, trafen wir uns bereits kurz nach Baku im August wieder in Italien, und Mauro und ich schrieben mehrere neue Lieder für Valentina. Im September produzierten wir diverse Titel und reichten im Oktober unseren Favorit "Crisalide" in San Marino ein. Die Jury tagte erst im Januar - und das Warten war also endlos.
Haben Sie Ihr diesjähriges Lied bewusst "italienischer" gehalten?
Siegel: Es ist mit wenigen Ausnahmen einfach immer wieder so, dass in der Muttersprache besser gesungen und interpretiert wird als in einer Fremdsprache. In einem gewissen Popbereich sowie bei Gruppen lässt sich das leicht verheimlichen und vermischen – in Liedern mit besonders guten und schwierigen Texten sehr selten. Nachdem ich ein Konzert von Valentina besucht hatte, wurde mir klar, dass der nächste Song nur Italienisch sein könne.
Da ich glücklicherweise fließend Italienisch spreche und in Italien viel Zeit verbringe, lag es somit auf der Hand. Die englische Version "Chrysalis (You’ll Be Flying)" erscheint aber dennoch in den nächsten Tagen, damit auch alle nicht Italienisch sprechenden Menschen den Text verstehen. Sie ist sehr gut geworden, und erfreulicherweise klingt der leichte italienische Akzent einfach bezaubernd und glaubwürdig.
Welche Lieder aus all den Jahren sind Ihnen besonders im Herzen haften geblieben?
Siegel: Wenn es den Grand Prix betrifft "Theater", "Johnny Blue", "Lass‘ die Sonne in Dein Herz", "Lied für einen Freund" und "If We All Give A Little" und natürlich "Reise nach Jerusalem" und "Ein bisschen Frieden" - aber selbstverständlich auch "Waterloo", "Merci Cherie", "Ne partez pas sans moi" und Johnny Logans "What’s Another Year" und "Hold Me Now", mit denen er mich zweimal auf Platz zwei verwiesen hat.
Könnte Nicole heute noch den ESC mit "Ein bisschen Frieden" gewinnen?
Siegel: Diese Frage ist hypothetisch … denn Nicole ist keine 16 mehr, sondern seit Harrogate 1982 älter geworden. Die damalige Glaubwürdigkeit mit ihrer kindlichen, ehrlichen Ausstrahlung und der weißen Gitarre hatte etwas ganz Besonderes und passte auch vom Arrangement und Styling in diese Zeit. Das Lied ist mit Sicherheit zeitlos und würde meines Erachtens heute mit einem ähnlichen, aber zeitgemäßen Bühnenauftritt und einer glaubwürdigen Sängerin gute Chancen haben, weit vorne zu landen. Gewinnen ist aber auch ein bisschen Glücksache, denn man weiß nie, was an so einem Abend alles passiert - aber träumen darf man ja noch ein bisschen!