Die spannendsten Acts des ESC 2017
Die Woche vor dem großen Finale des Eurovision Song Contest bietet eine gute Gelegenheit, die Teilnehmer noch einmal genau zu beobachten: Wer sticht womit besonders hervor? Wer sind die Favoriten und warum? Hier sind die spannendsten Acts des ESC 2017.
Österreich: Nathan Trent mit "Running On Air"
Er überzeugte während aller Probentage in Kiew - und zum Dank hat er sich nun für das Grand Final qualifiziert. Nathan Trent zeigt eine gewisse Frische, die von wenig Dekorationsballast auf der Bühne beschwert wird - abgesehen von einer Mondsichel, in der er zu Anfang seiner drei Minuten hockt und herausstrahlt.
Ja, das ist ein feiner Bursche: Nettes Lächeln, unangestrengte Art der Bewegungen - so präsentiert er sein Lied "Running On Air. Kein Weltververbesserungsalarm auf der Bühne. Er ist einfach der Junge von nebenan, mit dem man sich über alle Sorgen unterhalten kann. Aber er schwört in seinem Lied, auch schlimme Zeiten seien irgendwann einmal Vergangenheit, dann gehe man wieder wie auf Luft. Alles, was er jetzt in Kiew zu zeigen hat, hat er sich hart erarbeitet: Seine Karriere begann schon im Kindesalter. Aber die Mühen der Ebene, ehe eine Poplaufbahn mal beim ESC zum Höhepunkt findet, sieht man ihm nicht an. Dafür ist man dankbar: Nathan Trent ist das Optimismusangebot des Finales!
Armenien: Artsvik mit "Fly With Me"
Sie kann sehr schön singen, und sie sieht obendrein gut aus: In ihrer Heimat Armenien kennt man Artsvik als Sängerin, die so gut wie alles interpretieren kann - auch amerikanische Standards. In Kiew besticht sie mit der - neben Ungarn - einzigen Ethnopop-Nummer. "Fly With Me" klingt vom Titel her beliebig wie irgendein ESC-Titel aus dem Bereich mittlerer Langweiligkeit, aber trotzdem hat der Song Charme und Anmut.
Artsviks Lied fängt gleichwohl sacht, ja, vorsichtig an, ehe sie die Beats hervorzaubert. Insgesamt ist dieser armenische ESC-Beitrag extrem tanzbar. Es wäre ein Wunder, würde dieses Lied nicht noch auf Dauerschleifen in Tanzschuppen zu hören sein. Sie wird alle Stimmen von Jurys und Televotern auf sich versammeln, die nicht zwischen all den Mainstream-Titeln dieses ESC wählen wollen, sondern eher bevorzugen, dass die Lieder wie die Länder klingen, aus denen sie stammen. Insofern ist diese Armenierin auf der richtigen Spur!
Frankreich: Alma mit "Requiem"
Céline Dion zählt zu ihren Vorbildern - das ist hübsch größenwahnsinnig, denn die Frankokanadierin ist schon eine eigene Supernova im Kosmos des Pop. Aber warum sollte Alma, die Französin aus Lyon, nicht nach den ganz hoch hängenden Trauben greifen? Die Dion war schließlich 1988, als sie den ESC für die Schweiz gewann, auch keine sehr große Nummer. Alma jedenfalls interpretiert ihr "Requiem" als sehr frische und flotte Geschichte, die orientalisch angehaucht ist.
Alma gilt als Sternchen, der zum Star werden kann - und mit Hilfe des ESC auch soll. Ihr Lied ist fein gesungen, von Ferne meint man, Spuren von Vanessa Paradis zu hören. In den Proben in Kiew war Alma ausgesprochen selbstbewusst - sie ließ sich nicht aus der Ruhe bringen, auch nicht, als ein Putzeimer hinter der Bühne vernehmlich umfiel. Das Thema von "Requiem" - der Titel deutet es an - ist ernst, handelt von Menschen, die in Gefahr sind und in Frieden doch miteinander leben mögen. Almas ganze Körpersprache macht den Inhalt glaubwürdig. Eine vordere Platzierung könnte ihr gelingen - es würde in Frankreich viel dazu beitragen, den Wettbewerb wieder stärker zu popularisieren.
Ungarn: Joci Pápai mit "Origo"
Joci Pápai hat etwas zu thematisieren, was ihm sehr - und zu Recht - am Herzen liegt: das Leben und Schicksal so vieler Menschen aus der vor allem in Osteuropa lebenden Minderheit der Roma und Sinti. Der 35-Jährige gehört dieser Gruppe ebenfalls an. Bei seinem Lied gerät das allerdings eher in den Hintergrund. Denn vor allem besticht es durch musikalische Experimentierlust.
"Origo" ist ein Außenseiter-Titel, der beim zweiten Hören süchtig macht. So viel Rap, besser: so viel Hungarian Hip-Hop war selten. Seine Performance sticht - neben denen Portugals, Italiens und Armeniens - aus dem Meer des grauen Mainstreams hervor. "Origo" hat alles, was auch Amina 1991 für Frankreich mit "C'est le dernier qui à parlé" oder 1995 Aud Wilken für Dänemark mit "Fra Mols til Skagen" hatten: Magie durch die schiere Kunst der Darbietung. Joci Pápai kann im Finale alles werden - Letzter oder Zweiter, aber sein "Origo" gehört zu den Titeln, die von diesem ESC in der Ukraine bleiben werden. Er macht aus einem politischen Anliegen ein ästhetisches Fest. Hingucker und Hinhörer sondergleichen!
Moldau: SunStroke Project mit "Hey, Mamma!"
SunStroke Project schmettern bei jeder Probe ihr Lied ohne Reserve jeweils gleich gut und kraftvoll ins Mikro. Makellos. Dieser Act serviert eine sehr tanzbare Geschichte. Dominant sind vor allem die Saxofon-Zwirbeleien von Sergey Stepanov. Der Inhalt des Lieds "Hey, Mamma!", das die komplizierte Geschichte eines Mannes erzählt, der mit seiner Liebsten gern zusammen wäre, aber von der Schwiegermutter dauernd gestört wird, ist letztlich einerlei. Wir sehen drei nicht mehr so ganz teenagerhafte Männer mit stark blondierten Haaren, die eine extrem frohsinnige Nummer hinlegen.
Ihnen hinzu gesellen sich im Laufe der Darbietung drei Frauen, die in ihren weißen Kleidern wie Bräute aussehen. SunStroke Project schrecken vor keiner Vereinfachung zurück. Sie wissen: Jeder mürrische Blick ins Mikro kostet Punkte, deshalb gucken sie auch immer gut gelaunt. Denn sie wollen den 22. Platz, den sie als ESC-Vertreter Moldaus 2010 errangen, verbessern. Mit der Stimme des Sängers Sergey Yalovitskys müsste das hinhauen: In einem Meer von dramatischen Liedern ist "Hey, Mamma!" das gefälligste. Sie werden im Kampf um einen der Plätze in den Top 10 mehr als ein Wort mitzureden haben. Sie liefern das, was das Publikum will: Unterhaltung mit schönen Menschen.
Belgien: Blanche mit "City Lights"
Belgien hat dem ESC viele Lieder geschenkt, oft besondere. Der Beitrag dieses Jahres stand und steht hoch in den Wettbüros im Kurs - aber man musste sich Sorgen machen. Denn Blanche hatte keine guten Proben absolviert: die Stimme fahl, die Bewegungen ängstlich, die ganze Atmosphäre eher trüb und seltsam. Dabei hat dieses Lied die Qualität, zu einem ESC-Klassiker zu werden.
Denn es ist eigentlich die Antithese zu Petula Clarks Sechziger-Jahre-Welthit "Downtown", der Hymne auf die Möglichkeiten, die jeder in einer Stadt hat. Eine Ode an die Lichter der Metropole - das ist Blanches Chanson nicht. Es ist eher ein Elektrobeat-getriebenes, eher gleichmütig klingendes Lied, das von den Gefahren, der Einsamkeit und dem Persönlichkeitsverlust in der kalten Stadt Zeugnis ablegt. Bei den Proben stand Blanche noch nicht fest im Ring, aber alle Befürchtungen haben sich mit dem ersten Halbfinale erledigt. Sie war auf der Höhe ihrer Möglichkeiten, ihr Lied zu intonieren. Die Show, also die Inszenierung ihres Liedes, lebt von bläulichen Lichtern, von Blitzen und Streifen, die durchs Bild huschen. Blanche bewegt sich hierzu nicht einen Schritt, soweit man das erkennen kann. Sie buhlt nicht um Sympathien, sie animiert nicht, sie bettelt nicht. Sie steht einfach da - und singt. Und dies ist, nun ja, absolut betörend.
Aserbaidschan: Dihaj mit "Skeletons"
Dihaj tritt für Aserbaidschan an und war im ersten Halbfinale außergewöhnlich überzeugend - wie seine Qualifikation fürs Finale zeigt. Dihajs Text mag vielleicht unbeachtet bleiben, von ihrer Bühnenshow wird man das nicht sagen können: eine Kulisse wie aus einem Stück episch-strengen Theaters. Die Aussage des Liedes ist auf die Massenhaftigkeit des Menschen an sich gerichtet. Ein Plädoyer für Individualität und Personality - das mag gefallen.
Dihaj, die ihr elektronisch angehauchtes Lied leidenschaftlich performt, hat sogar Hilfe der aserbaidschanischen ESC-Sieger von 2011 in Düsseldorf im Gepäck. An ihren "Skeletten" hat dasselbe Team mitgeschrieben, das auch "Running Scared" hervorgebracht hat. Aber jedes Lied kann auch schwer zur Nichtigkeit zertrampelt werden, wenn man es nicht sympathisch und ungewöhnlich findet - am besten beides. Das ist bei "Skeletons" der Fall: Das teure Bühnenarrangement scheint eine Story zu erzählen von erheblichem Gewicht. Und sogar eine Geschichte, die Rätsel hinterlässt: Was der Pferdekopf soll, was die hippologische Symbolik? Weiß keiner so recht. Und das macht auch nichts: Denn Dihaj ist ja auch keine Philologin ihres Auftritts, sie soll ihn nur gut rüberbringen und das schaffte sie im ersten Semi. Das ist das beste Lied, das das Land je zum ESC geschickt hat. Die Materialschlacht ist zwar teuer gewesen, aber das lohnt sich, das ist Augenfutter der feinsten Art.
Italien: Francesco Gabbani mit "Occidentali's Karma"
Selten in der jüngeren ESC-Geschichte hat es schon lange vor dem Finale einen solch klaren Favoriten gegeben wie Francesco Gabbani. Aus seiner Delegation heißt es: "Er weiß, dass viele Hürden noch vor ihm liegen, aber er will sie schaffen." Und das wird er.
Denn der 34-Jährige ist ein begnadeter Performer: Bei der ersten Probe erobert er die Bühne nahezu als hätte er vor nichts Angst. Seine Stimme ist noch ausbaubedürftig, aber wer glaubt, beim ESC komme es auf astreinen Gesang an, ist ohnehin im Irrtum.
Die Botschaft in seinem Song "Occidentali's Karma" lautet: Im Menschen lauert ein wilder Affe, der den Trieben und Begehrlichkeiten freien Lauf lässt. Ob das Sinn macht, fragt man sich? Einerlei. Der Titel entfaltet diese gewisse souveräne Frische, die guten Pop-Songs eigen ist. Gabbani hat selbst an Musik und Text mitgewirkt. In Italien ist sein Album "Magellano" erschienen und steht auf Nummer eins der Charts. Der erste Platz beim ESC ist in mehr als greifbarer Nähe.
Portugal: Salvador Sobral mit "Amor pelos dois"
Den extrem ruhigen Titel "Amor pelos dois" hat Luísa Sobral für ihren Bruder Salvador geschrieben. Die Performance kommt - und soll es auch - ganz ohne Pyro- oder Tanzelemente aus. Luísa Sobral sagt, die Eurovision sei ein Liederwettbewerb, und genau das hätte sie ernst genommen und eben ein Lied geschrieben. Dass "es so schön und gut werden würde, wusste ich am Anfang natürlich nicht, aber mein Bruder macht aus meiner Komposition und meinem Text eine Geschichte, die auch mich noch berührt". Was wie ein eitles Selbstlob klingt, trifft es doch in magischer Weise. Dieses Lied hat extrem suggestiven Charakter, es zieht hinein buchstäblich wie ein Sog. Bei den ersten Proben sang allerdings seine Schwester Luísa den Titel, Bruder Salvador kam erst später nach Kiew und begeisterte schließlich im Halbfinale.
Der haushohe Favorit, der Italiener Francesco Gabbani, ist, mit anderen Worten, noch längst nicht im Ziel. Salvador und Luísa Sobral werden ein starkes, leises und doch kräftiges Wort mitreden.
Schweden: Robin Bengtsson mit "I Can't Go On"
Robin Bengtsson strahlt Coolness und Entspanntheit aus. Sein Song "I Can't Go On" ist beste schwedische Pop-Konfektionsware: Ein Hit in Schweden, auch in Polen wird er im Radio gedudelt, eine frische Nummer zum Aufstehen. Schwedische ESC-Beiträge sollen seit einigen Jahren, man sah es bei Måns Zelmerlöws Sieg 2015 in Wien, wie Videoclips aussehen, wie Ware vom Band, nicht im Moment der Fertigung dargebracht.
Die Inszenierung von "I Can't Go On" hat etwas bestechend Perfektes, aber könnte auch steril wirken. Robin Bengtsson, der als Komponisten Robin Stjernberg (der 2013 im Finale von Malmö den 14. Platz erreichte) hinter sich weiß, ist bereit, die maschinelle Art der Performance seines Liedes zu absolvieren: So relaxt wie er guckt sonst bei diesem ESC niemand. Prognose: Finaleinzug, ganz sicher.