Wer tritt Conchitas Erbe an? Die Entscheidung naht
So ist heute Abend die Konstellation: In der Nacht zum Sonntag wird nicht nur ermittelt, wer den 60. ESC gewinnt, sondern vor allem, wer in die Schuhe, besser vielleicht die Pömps, der Conchita Wurst passen könnte. Mit dem Blick auf die vergangenen zwölf Monate scheint mir sicher: Kein ESC-Gewinner hat nach dem ESC-Sieg soviel Aufmerksamkeit auf sich ziehen können wie der Österreicher Tom Neuwirth (Conchita Wurst). Und auf das, wofür er steht: Toleranz und Respekt. Und das in Glamour. Die Niederländer The Common Linnets mögen mit "Calm After The Storm" den ertragreicheren Charthit gehabt haben, aber der Mann, der uns "Rise Like A Phoenix" schenkte, wird für immer eines bleiben: eine Legende, die aus Konsequenz und Mut geboren wurde.
Sehr viele Mann-Frau-Paare
Dieser ESC von Wien lebt in gewisser Weise von den Reaktionen auf die Siegerin des Vorjahres. Sehr viele Paare waren in den Semis und sind im Finale am Start - Mann-Frau-Kombinationen. Einige von ihnen küssen sich bei der Performance, die Litauer tun das. Historisch ließe sich anfügen: Das haben die Dänen Birthe Wilke und Gustav Winckler 1957 auch schon gemacht, und wurden damit Dritte.
Zum Abend selbst: Einiges an Pyro ist doch in der Show, sehr viel Windmaschineneinsatz darf erwartet werden, viele Frauen bedienen sich dieses Instruments, das die Haare und Kleider schön bauscht (die Kandidatinnen aus Spanien und Griechenland, auch die Kopfhörermuscheln tragende Slowenin …). Ob es hilft? Fraglich.
Ich schätze, die Antipoden des Abends sind die Russin Polina Gagarina mit "A Million Voices" - eine Friedenshymne, die perfekt vorgetragen wird. Und der Belgier Loïc Nottet, der eine elektronisch durchwirkte Tanznummer bietet, die von den großen Augen des Wallonen und seinem irritierend schönen Gesang lebt. Gewinnt also der klassische Pomp, der sich zum Hymnus steigert? Oder die coole Nummer, die sehr wahrscheinlich gut für die Charts ist?
Schlager oder Swing?
Das andere Gegensatzpaar wird aus dem Schweden Måns Zelmerlöw und dem Australier Guy Sebastian bestehen. Måns Petter Albert Sahlén Zelmerlöw, wie der Mann aus Lund mit ganzem Namen heißt, bringt den typischsten ESC-Schlager, der natürlich modern klingt. Und Guy Sebastian ist der Musiker, der Performer schlechthin, der selbst mit einer etwas zu verstimmten Wandergitarre wie neulich beim deutschen Botschaftsempfang noch seine Spielfreudigkeit unterstreicht. Der eine ein Kalkül der schwedischen Musikindustrie, der andere ein Bruno Mars der eurovisionären Art, der nicht so glatt und schier wirkt, sondern eher wie einer, den es zufälligerweise auf die Bühne spült: Das muss man auch erstmal können, diesen Eindruck zu hinterlassen, denn in puncto Professionalität nehmen sich der Schwede und der Australier ja nichts.
Oder kommt es doch anders? Werden die norwegische Schmachtballade oder das israelische Tanzstück vorne liegen? Hat die deutsche Ann Sophie eine Chance mit ihrem starken Gesang?
Sieger nach großen ESC-Triumphen gab es selten: Teach-In 1975 im Jahr nach Abba, Charlotte Nilsson 1999 nach Dana International, Emmelie de Forest 2013 nach Loreen oder Tanel Padar, Dave Benton und 2XL 2001 nach den Olsen Brothers: Diese Sieger hatten ihre Zeit, aber sie überdauerten sie nicht.
Könnte auch sein, dass uns eine ultrafette Überraschung am Ende, eine gute halbe Stunde nach Mitternacht, droht. So wie Lordi 2006 in Athen: Niemand aus der ESC-Community konnte oder wollte mit den Maskenleuten aus Nordeuropa rechnen. Also heute Abend: Litauen, also Monika Linkyté & Vaidas Baumila? Ihr Auftritt schien mir am frischesten von allen - diese Balten hat wirklich niemand auf der Rechnung.
Conchita Wurst, das steht fest, wird jene sein, die am häufigsten im Bild sein wird, als Green-Room-Moderatorin ja auch. Ein würdiger Abschied für eine einjährige, sehr sehr erfolgreiche ESC-Regentschaft.