Todsünde: Ein starker Hang zur Gefallsucht
Ein ungewöhnlicher Act soll für den ESC in Lissabon ausgesucht werden. Nicht der Kompromiss, sondern Mut zum Unkonventionellen soll bei den Kandidaten und Kandidatinnen belohnt werden - nicht der Mainstream, sondern Exzellenz soll das Rennen machen. Ein ESC-Act, so ermittelte das NDR Team um Thomas Schreiber, der Erfolg haben will, dürfe nicht nach dem Motto "Allen wohl und niemand weh" charakterisiert sein, sondern durch eben das Besondere, was diese Performance von den anderen hervorhebt. Beim Vorentscheid zeigt sich nun, welcher deutsche Act von besonderer Qualität das Ticket nach Portugal löst: Bevor die sechs Lieder veröffentlicht werden, erklärt Jan Feddersen wie man es nicht machen sollte.
Nur Unverwechselbares fällt auf
Bemerkbar zu sein, sich abzuheben, ist für alle Eurovisions-Acts schwer. Das Publikum kann dieses Jahr in 43 Ländern über 26 Final-Acts in Lissabon abstimmen. Genauer gesagt: Ein deutscher Zuschauer hat beispielsweise die Auswahl unter 25 Künstlern, denn für den Beitrag aus dem eigenen Land eine Stimme abzugeben, ist nicht möglich. Mindestens 90 Prozent aller Zuschauer haben die allermeisten Lieder am 12. Mai noch niemals gehört. Debatten wie hier oder auf anderen ESC-Plattformen interessieren diese Menschen vorher nicht. Sie sind keine Nerds, bestenfalls sind sie von größter Neugier und weitgehender Freundlichkeit dem Abend gegenüber geprägt.
Mit anderen Worten: Das Publikum soll auch noch abstimmen, das heißt, selbst aktiv werden. Und das wiederum bedeutet, dass ein Lied, für das jemand eine SMS abschickt oder im Netz auf der App einen Sympathieklick gibt, viel dafür tun muss, nicht verwechselbar zu sein. Das ist eigentlich das ganze Geheimnis guter bis sehr guter Platzierungen beim ESC: Hebe dich von den anderen ab und empfehle deine Performance als besonders und würdig, beim Televoting Stimmen zu holen.
Gescheiterte und Geschockte
Wir haben hier in den vergangenen Wochen die Charakteristika der besonderen Acts debattiert - und hier folgen nun einige Lieder mit ihren Interpreten, die schlecht abschnitten, obwohl sie ihr Handwerk auf der Bühne recht ordentlich versehen haben. Sie alle eint ein starker Hang zur Gefälligkeit, schlimmer noch: zur Gefallsucht. Sie sehen bei ihren Darbietungen aus, als ob sie uns unbedingt gefallen wollen. Und das ist falsch. Das ist das Schlimmste, um Eindruck zu schinden.
Als allererstes muss DJ Bobo genannt werden, der Schweizer, der 2007 seinem Heimatland im Semifinale einen Schock versetzte - er landete auf dem 20. Platz. Dieser berühmte Entertainer war also gescheitert. Aber das war auch kein Wunder: "Vampires Are Alive" war langweilende Konservendosenmusik ohne Charme und Magie. Da nützte auch sein Lächeln während seiner drei Minuten nichts. Merke, Berühmtheit reicht nicht!
Nicht weniger übel zugerichtet verließ die für Dänemark antretende Sängerin Anja Nissen voriges Jahr Kiew: Knapp ins Finale gelangt, belegte ihr "Where I Am" nur den 20. Platz. Ihr Lied - bei aller Liebe zu dem Land, das der ESC-Community immerhin Sängerinnen wie Birthe Kjær geschenkt hat - war doch nur ein verwechselbares Stück Kreischpop, das schon nach sechs Tönen wünschen ließ, es möge bitte sehr bald enden. Beim ESC gibt es ja seit jeher sehr viele Frauen, die in höchsten Tönen ihre Performance mit viel Energie versehen: Das war Dutzendware ohne Spirit und Anmut. Das gilt auch - in etwas temporeicherer Art - für die PortugiesinSuzy, die es 2014 knapp nicht ins Finale schaffte. Ihr "Quero Ser Tua" tat lebendig und war doch nur irgendwie Musik, die nicht stört.
Schmalziges Lächeln in die Kameras kann Gift sein
Das Gleiche muss aber auch über den 2017 für Kroatien startenden Jacques Houdek gesagt werden. "My Friend" war ein ausuferndes Stück Hymnenpop, das auf dem respektablen 13. Rang landete, aber ungefähr das Gegenteil von Coolness verkörperte. Alles, was diese Nummer in den Augen vielleicht nicht vieler, aber einiger Fans hervorhob, waren Mitleidspunkte: "Ach, ist er nicht sympathisch", hieß es. Das Gros seiner Punkte erhielt er auch aus der Nachbarschaft, aus Slowenien und Montenegro. Nein, er war kein Orientierungspunkt, er war verwechselbar, etwa mit dem Belgier Axel Hirsoux des Jahres 2014: körperliche Wucht gepaart mit musikalisch geringer Strahlkraft.
Die österreichischen Makemakes und ihr "I Am Yours" waren keine guten Vorbilder für irgendeinen Wunsch nach Extraklasse: letzter Platz, eine lahme Nummer, die sich erst beim zehnten Hören erschloss. Das ist für einen ESC zu wenig. Merke, wenn schon ästhetische Verwandtschaft zur Hippie- und Rockkultur gesucht wird, dann mit Kraft, nicht einschläfernd! Last but not least: Boggie aus Ungarn, die "Wars For Nothing" sang, und wohl hoffte, mit einer elegischen Friedensnummer im Stil von John Lennons "Imagine" viele Punkte als Dank zu erhalten. Ihr 20. Platz wird ihr die Realitäten aufgezeigt haben. Merke, der gute Wille, mit säuselnder Ware einen feinen Preis zu erzielen, scheitert, wenn es belanglos aussieht! Ungewöhnlichkeitsfaktor: keiner. Und das ist beim ESC der direkte Weg, arm an Punkten nach Hause zu fahren. Das will keiner. Deshalb der Appell an alle sechs Kandidaten und Kandidatinnen der Vorentscheids-Show: zeigt, was ihr seid - nicht das, was ihr glaubt, sein zu sollen.