ESC-Erfolgsrezept: Melancholische junge Männer
Ein ungewöhnlicher Act soll für das nächste ESC-Jahr ausgesucht werden. Nicht der Kompromiss, sondern Mut zum Unkonventionellen soll bei den Kandidaten und Kandidatinnen belohnt werden. Ein ESC-Act, so ermittelte das NDR Team um Thomas Schreiber, der Erfolg haben will, dürfe nicht nach dem Motto "Allen wohl und niemand weh" charakterisiert sein - sondern durch eben das Besondere, was diese Performance von den anderen abhebt. In einer Serie stellen wir erfolgreiche außergewöhnliche ESC-Acts vor. Was waren ihre Erfolgsfaktoren? Diesmal: junge Männer mit melancholischen Songs.
Der Eurovision Song Contest ist der jährliche Beweis dafür, dass folkloristische Musik in den meisten Ländern nur noch eine Facette unter vielen ist. Aber ein Gesetz scheint noch immer zu gelten: dass Männer, die ein trauriges Lied vortragen oder ihre Melancholie in drei Minuten dramatisch zur Vorstellung bringen, früher gerne im Frack, im Smoking oder zumindest in gedeckt-bürgerlicher Kleidung, gut beim ESC ankommen. Beispiele dafür sind: Julio Iglesias im Jahre 1970, Johnny Logan beim zweiten Sieg 1987 oder Udo Jürgens 1966 bei seinem dritten und erfolgreichen Anlauf zum ESC-Sieg. Die Bühnenshow hat sich seitdem zwar geändert, aber es ist nach wie vor etwas Besonderes, wenn beim ESC ein männliches Wesen eher beiläufig am Mikro steht, wenn der Künstler nicht tänzelt, als sei es an der Ballett- oder Musicalschule eingeübt, oder als sei er in irgendeinem coolen Club in Tallinn, Antwerpen, Tel Aviv oder Krakau künstlerisch aufgewachsen.
Sanfte Klänge von Max Mutzke und Co.
Einer, der es probierte und in gewisser Weise am hochgesteckten Ziel seines Mentors, Stefan Raab, scheiterte, nämlich zu siegen, war Max Mutzke 2004 mit seinem "Can’t Wait Until Tonight". Seine Klamotten sahen nicht festlich aus, sein gesamtes Äußeres hatte etwas Durchschnittliches und Jungerwachsenes. Kein Welpe mehr, aber noch längst kein reifer Erwachsener - ein männliches Wesen vor der gründlichen Klärung seiner Gefühlswelt. Immerhin aber schaffte er es auf den achten Platz - das ist gemessen an vielen deutschen Acts danach wahrlich kein schlechtes Resultat.
Als ein weiteres Beispiel mag der Ungar ByeAlex gelten, der 2013 in Malmö zu Puszta-Folklore und ähnlichen nationalen Bizarrerien einen Kontrapunkt setzte und "Kedvesem" sang - ein schwermütiges, ergreifendes Liebeslied, bei dem der Interpret obendrein noch eine viel zu große Kassenbrille trug und eher wie ein Hipster wahrgenommen wurde als wie ein Ungar der traditionellen Sorte. Er schnitt beim Televoting viel besser ab als bei den Juroren, vom ARD-Publikum erhielt er gar die Höchstzahl von zwölf Punkten. Im Jahr zuvor war Roman Lobfür Deutschland mit ähnlichem Konzept ins Rennen von Baku gegangen. Sein "Standing Still" kam nun einer Vollvermützung der Jungmännlichkeit gleich, wobei er charmanterweise auch noch ein Lächeln auf seinen hübschen Mund zauberte. Das ergab am Ende den achten Platz, ein zehnter Rang bei den Profijuroren, ein sechster Rang indes beim Televoting. Cool, made in Germany, kam also gut an. Vor ihm lag am Ende der Este Ott Leppland mit "Kuula" - auch ein junger Mann, aber stilistisch mehr im Troubadourfach angesiedelt - ganz auf Musical-Atmosphäre setzend. Der Mann aus Tallinn verdankte seinen Platz den Juroren, nicht den Televotenden, die ihn auf den zwölften Platz werteten.
Schräge Accessoires können punkten
Aber einer war der Besonderste in dieser Sparte, er gewann schon in Schweden gegen die Pyro-Kaskaden, gegen die Norm der überschminkten und überchoreografierten Nummern: Frans im Jahre 2016 mit "If I Were Sorry". Zwar ohne Mütze, aber dafür mit Sakko der eher preisgünstigen Sorte, das Haar unwirsch nach hinten gegelt, ohne dass es wie eine Schmierfrisur aussah. Das Lied spielten europaweit viele Radiostationen. Am Ende reichte es für den Schweden im eigenen Land für den fünften Platz.
Man darf schlussfolgern: Die Sender dürfen mehr als nur ein bisschen Vertrauen haben, schickt sich einer an, die Fahrkarte zum ESC zu gewinnen. Er darf gerne wie ein leicht vergrübelter Struppi oder ein bemützter Hipster aussehen - und Hornbrillen auf schmalem Gesicht sind beim Publikum auch keinen Malus.
Ungewöhnlichkeitsfaktor: Eigenwillige Stile unbedingt ernst nehmen - und auch Lieder oder Performance, die sich wesentlich vom "coolen" Geschmack abheben. Kopfbedeckungen sind okay, müssen aber glaubwürdig wirken. Ein schüchternes Lächeln öffnet Herzen!