ESC-Erfolgsrezept: Der Sympathiefaktor
Für den deutschen Vorentscheid zum Eurovision Song Contest 2018 in Lissabon sucht das ESC-Team um Thomas Schreiber einen unkonventionellen Act, einen der polarisiert statt auf der Welle des gefälligen Mainstreams zu schwimmen. Das Eurovisions-Panel hat den ersten Teil seiner Suche nach geeigneten Kandidaten bereits abgeschlossen. Wir schauen bis zum Vorentscheid auf bisherige außergewöhnliche ESC-Acts aus verschiedenen popmusikalischen Genres und stellen zur Diskussion: Was war an diesen Performances in ihrer Mixtur aus Interpret, Lied und Darstellung besonders? Was hob sie von anderen ab? In Teil 2 geht es um den Sympathiefaktor, der den Olsen Brothers 2000 in Stockholm den Sieg bescherte.
Aus dem ESC-Raster gefallen
Im Nachhinein ist es immer leicht, schlau zu sein. Der berühmte Musikmanager Hans R. Beierlein, Erfinder der Musik-Produkte "Udo Jürgens", "Alexandra" und "Volksmusik", sagte hinterher: "Na, das war doch klar, dass sie gewinnen. Die erfolgreichsten Megatourneen des Jahres waren solche von alten Leuten ... Die Stones, Tina Turner, Gilbert Bécaud, Udo Jürgens …" Jedenfalls: Die dänischen Sieger des dortigen ESC-Vorentscheids hatte im Vorfeld des Eurovision Song Contest 2000 in Stockholm niemand von den Experten auf dem Zettel. Die Olsen Brothers - die Brüder Jørgen und Noller - waren Softrocker, Männer mit grauen Haaren, die in ihren jugendlichen Jahren auf Rockfestivals auftraten und nun noch einmal für den Melodi Grand Prix quasi vom Friedhof des Pops ausgegraben wurden. Sie sahen außerdem nicht besonders grandprixesk aus: einfach wie zwei Musiker ohne besonderen Bühnenglitter.
Junge Frauen - keine Punktegarantie
In den Wetten standen sie bis zum Grand Final irgendwo zwischen Platz 8 und 12, an den kommenden Triumph war nicht zu denken. Favorisiert waren Acts wie der von Ines aus Estland oder Alsou aus Russland - zwei junge Frauen, die beide mit ihren gefällig-modernen Popliedlein vorne landeten, aber eben doch den dänischen Musikern nicht das Wasser reichen konnten. Hätte es nur ein Juryurteil gegeben, wäre vermutlich Stefan Raab über seinen exzellenten fünften Platz noch hinausgekommen: Ersichtlich, so teilten die Musikprofis aus allen möglichen Ländern mit, galt der Deutsche mit seinem "Wadde hadde dudde da" als der beste Musiker - sein Lied galt als undeutsch, funky und flott, schrill und zeitgemäß. Ein belgischer Produzent sagte damals: "Stefan Raab - von uns allen, das hört man seinem Lied an, hat er die meiste Ahnung von Musik, in jeder Hinsicht."
Die netten Herren von nebenan
Doch die Olsen Brothers boten mehr als alle andere. Sie hatten Wärme im Gepäck, das Selbstvertrauen aus vielen Jahren im Popgeschäft, ohne je irgendwo die Nummer eins zu sein, sich aber immer gewiss, über eine mächtige Fan-Base zu verfügen. Und ihr Lied war vielleicht das ungewöhnlichste des Abends deshalb, weil es ziemlich feinfühlig alle gängigen Trends im Pop aufgriff und integrierte. Denn perfekter Gesang war nicht die Stärke der beiden, manche Note kam schief gesungen über die Mikrofone. Aber: Um Perfektion geht es nicht, will man ein Erfolgsrezept formulieren. Die Olsen-Brüder wirkten - und darauf kam es an - in einem Meer aufgedonnerter, gestylter und akkurat gefönter Figuren wie die netten Nachbarn, die man immer wieder zur nächsten Grillparty einlädt.
Mit Soundeffekt auf modern getrimmt
Sie waren sozusagen die liebsten Popfiguren des Abends. Es mag für ihren Erfolg eine Rolle gespielt haben, dass sie ersichtlich genießen konnten und schon bei der Generalprobe am Freitagabend im Globen vom Publikum spontan mit wärmstem Beifall ins Herz geschlossen wurden. Andere performten mehr oder weniger gut, aber die Olsens waren auf der Bühne einfach sie selbst. Und ihr Lied, das war nicht minder wichtig, war natürlich auf der Höhe der Zeit. "Fly On The Wings Of Love" war eine Art Bellamy-Brothers-Listen-Alike-Sound, dass es nur so funkelte. Der ganze Sound fräste sich in die Gehörgänge des Publikum, als sei’s ein Stück der damals wahnsinnig populären Gypsy Kings aus Frankreich. Und dann der Vocoder-Effekt - die verfremdeten Stimmen beim Refrain mit den Mitteln der Technik war eben erst durch "Believe" von Cher in die Charts gebracht worden. Die Olsen Brothers nutzten einfach diese moderne Technik, die damals aus einem durchschnittlichen Lied per Arrangement ein besonderes machte.
Höchstpunkte als eurovisionärer Konsens
Das, was die Olsens in die Arena trugen, war sozusagen ihr persönliches Kapital, das in keiner Casting-Schule gelernt werden kann: Wärme, Sympathiefähigkeit und Mitgefühl in einem guten Sinne. Sie wirkten wie eine Wolldecke in kühler Umgebung: Es gab aus fast allen Televoting-Ländern die höchsten Punktzahlen, das war offenbar ein eurovisionärer Konsens. Für den Anspruch, Ungewöhnliches zu ermöglichen, zählt nur diese Tatsache: Vor diesem Stockholmer ESC hätte niemand für möglich gehalten, dass zwei alte Säcke mit einem Mid-Tempo-Kuschel-Song gewinnen könnte. Merke: Nichts ist beim ESC unmöglich, es muss nur wahrhaftig wirken.
Ungewöhnlichkeitsfaktor: krass. Niemand hatte auf dem Radar, dass es, zumal bei den Televotings, auf die Performances live ankommt - und: So alte Interpreten hatten noch nie einen ESC zuvor gewonnen. Außenseitertriumph!