ESC-Erfolgsrezept: Die coole Nummer
Die Suche nach Kandidaten für den deutschen Vorentscheid zum Eurovision Song Contest 2018 in Lissabon läuft derzeit auf Hochtouren. Ein unkonventioneller Act soll es sein, einer, der polarisiert und nicht im Mainstream mitschwimmt. Wir schauen bis zum Vorentscheid unterdessen auf bisherige außergewöhnliche ESC-Acts aus verschiedenen popmusikalischen Genres und stellen zur Diskussion: Was war an diesen Performances in ihrer Mixtur aus Interpret, Lied und Darstellung besonders? Was hob sie von anderen ab? Im fünften Teil geht es um das Duo The Common Linnets, das im Jahr 2014 in Kopenhagen für die Niederlande den zweiten Platz erreichte.
Sanfte Nummern haben es nicht leicht
In der Tendenz hatten es in den vergangenen Jahren, mindestens seit Beginn der Einführung des Televotings im Jahr 1997 in Dublin, lautstarke Performances eher leichter als sanftere Nummern. So wird es ja auch unter Musikern in allen ESC- Ländern verbreitet: Song Contest ist, wenn es mit viel Pyro und Perkussion zur Sache geht, und das in 180 Sekunden. Acts, die es anders halten, müssen schon sehr, sehr gut sein. The Common Linnets waren ein solcher, und hätte ihnen nicht Conchita Wurst mit ihrer konzentrierten Entschlossenheit im Wege gestanden, wären sie die Sieger von Kopenhagen gewesen.
Zarte Verführungsgeschichte
Das Duo, das sich schon zum Zeitpunkt der Proben in der dänischen Hauptstadt getrennt hatte, inszenierte sich mit seinem melancholischen Liebeslied wie eine extrem zarte Verführungsgeschichte. Die ersten Töne gingen fast unter, so hintergründig kamen sie über die Lautsprecher. Die Kamera kam von oben herab und zeigte das Paar, das von eine Linie, die einer Fahrbahnmarkierung glich, getrennt wurde - als ob ein Graben zwischen beiden wäre.
Trennstrich symbolisiert die Botschaft des Liedes
Bei diesem intensiven Auftritt mit ihrem Song "Calm After The Storm" war ganz stark erkennbar: Hier ringen zwei sich nahestehende Menschen um Ausdruck für das Gemeinsame wie das Trennende. In keiner Sekunde kommen Zweifel auf, dass es um eine sehr traurige Angelegenheit geht - Ironie oder Witzelei gleich null.
Hinterher hieß es, The Common Linnets hätten eine Art Country-Geschichte dargeboten - aber das ist ein fehlerhafter Blick: "Country" ist offenbar eine Gattungsbezeichnung für Musik, die ruhiger fließt. Country als ästhetischer Fundus ist beim ESC nicht oft zur Aufführung gekommen, am prominentesten aus deutscher Sicht war natürlich Texas Lightning 2006 in Athen. Aber im Vergleich mit den Common Linnets - mit der kongenialen Ilse DeLange und ihrem Partner Waylon (eigentlich Willem Bijkerk, tritt 2018 für die Niederlande solo an) - wirkten sie niedlich und nett, obendrein schafften sie es nicht, die fette Bühne auszufüllen. Die Niederländer hingegen wurden von der Regie, zumal nach dem munteren dänischen Beitrag von Basim, wie in einem düster-gemütlichen Club ins Bild gesetzt. Und das saß!
Publikum wählt Duo auf zweiten Platz
Beim Televoting kamen die Niederländer auf den zweiten Platz, waren also beim Ranking der Anrufer populärer als bei den Jurys, bei denen sie auf dem vierten Rang landeten. Die Rarität, ein sehr gelassenes, cooles Lied zu präsentieren, hat sich also für das Ur-Mitglied des ESC gelohnt. Genau wie auch schon im Jahr zuvor, als Anouk ein irritierend zurückhaltend-langsames Lied aufführte und immerhin Neunte wurde, dies aber hauptsächlich dank der Juroren. Das Geheimnis des Erfolgs, der in den Monaten nach dem ESC mit der besten Radiopräsenz aller Eurovisionslieder von 2014 noch unterstrichen wurde, liegt darin, dass ein Act sehr wohl balladesk und wehmütig gestrickt sein kann, aber dies nicht durch effekthascherische Mittel angereichert wurde.
Kein Pomp, keine Böller oder andere Knalleffekte
Es sah aus, als sängen zwei eher nebenbei, nicht vor Hunderten von Millionen an Zuschauern. Kein Pomp, keine Böller und andere Knalleffekte: Das kann sehr weit nach vorne bringen, sofern die Produktion auf suggestive Klangmuster setzt. Dann ist die Eurovisions-Zutat schlechthin seit Ende der fünfziger Jahre, die typische Stimmhebung beim letzten Refrain, das hymnische Schmettern, nicht nötig. The Common Linnets werden wenig Nachahmer finden, denn es ist nicht leicht, auf diese traditionellen Zutaten für einen erfolgreichen ESC-Auftritt zu verzichten. Man muss sich seiner Sache sehr sicher sein. Bei den Common Linnets kam es aber sowieso nicht sehr darauf an, welche Platzierung sie am Ende erreichen würden. Die Radioeinheiten waren sicher, dann kann es professionellen Künstlern gleichgültig bleiben, ob sie den zweite oder den zwölften Rang belegen.
Ungewöhnlichkeitsfaktor: Heftig. In einem Meer des aufreizenden Lärms war es die coole Nummer. Die Regie des Acts hielt sich daran und inszenierte The Common Linnets wie eine sehr ausgeruhte Autofahrt durch die amerikanische Prärie. Hoher Suggestionsanteil.