ESC-Erfolgsrezept: Unangestrengte Naivität
Die Suche nach Kandidaten für den deutschen Vorentscheid zum Eurovision Song Contest 2018 in Lissabon läuft derzeit auf Hochtouren. Ein unkonventioneller Act soll es sein, einer, der polarisiert und nicht im Mainstream mitschwimmt. Wir schauen bis zum Vorentscheid unterdessen auf bisherige außergewöhnliche ESC-Acts aus verschiedenen popmusikalischen Genres und stellen zur Diskussion: Was war an diesen Performances in ihrer Mixtur aus Interpret, Lied und Darstellung besonders? Was hob sie von anderen ab?
"Lovely" Lena bezauberte in Oslo
Ein konkurrenzfähiges ESC-Lied muss nicht auf ewig schön sein. Es ist unwichtig, ob man es noch in 30 Jahren noch gern hört. Ob die Nummer, die vorgetragen werden soll, den Kriterien von Popwissenschaftlern genügt. Ob der Text hinreichend komplex wirkt. Wichtig ist: der Moment. Der Eindruck während der entscheidenden drei Minuten im Finale. 180 Sekunden Zeit, das Publikum zu überwältigen, und zwar auf sympathische Weise. Eine, die dies und nichts anderes geschafft hat, war: Lena 2010 in Oslo.
Die Deutsche ging aus dem NDR/Stefan Raab-Castingformat "Unser Star für Oslo" hervor, und war keineswegs nach Durchsicht der Bewerbungsunterlagen Ende des Jahres 2009 in der A-Mappe, sie musste erst beim zweiten Blick entdeckt werden: Ist unter jenen, die nicht sicher in der ersten Auswahl waren, nicht doch eine ganz Besondere? Die Hannoveranerin war bei ihrem, so geht die Legende, Videoschnipsel, den sie einreichte, genauso erfrischend, albern und so fern aller üblichen "Ich will ein Star werden, erkennt doch meine Qualitäten"-Ästhetik, wie wir als Publikum dies in den folgenden Monaten erleben konnten.
Nimm's leicht - und zeig' keine Anstrengung
Lena Meyer-Landrut hatte jedoch das drauf, was beim ESC ein Erfolgsrezept sein kann: eine gewisse Naivität im Ausdruck, die sich durch nichts erschüttern lässt. Die angehende Abiturientin schien alles wahnsinnig leicht - nicht leichtsinnig! - zu nehmen. "Satellite", das Lied, das das deutsche Publikum für sie in puncto Oslo wählte, spiegelte diese Nichtangestrengtheit kongenial. Drei Minuten popästhetische Unwichtigkeit, die im Popularen aber Goldstandard hat: Das ist nicht für alle Zeiten, das ist ein Kommentar für den Moment. Lena hat diese Flüchtigkeit wie keine andere in Oslo zeigen können: Alle, buchstäblich alle anderen wirkten so siegesbedürftig, so verbissen und fast erschöpft, dass der Zuschauer oder die Zuschauerin in Sachen Lena einfach alternativlos war.
Weniger ist oft mehr
ESC-Acts, die auf der Bühne überfrachtet wirken, werden gern - immer aus der Perspektive der Zuschauer - als Mogelpackung wahrgenommen: "Was verdeckt das Material?", könnten die Zuschauer denken. In Lenas Osloer Finale waren noch drei andere starke Frauen im Spiel, aber Aserbaidschans Safura, Armeniens Eva Rivas und Georgiens Sofia Nizharadze boten mehr "Cirque du Soleil" als wirklich wie Gesangswettbewerbs-Teilnehmerinnen zu wirken. Lena jedenfalls kam mit einer eher kargen Inszenierung daher: Steht auf einem Platz der Bühne, über ihr nur eine Art Kronleuchter mit Fadenlichtern, der Chor verdeckt im Hintergrund - und tänzelt nur gering.
Kameras - volles Rohr auf die Künstlerin
Alles ist auf ihr Gesicht, ihre allerdings kostbare Schlichtheit ausgerichtet. In der TV-Sprache heißt das: Fokussierung auf die Künstlerin selbst mittels Reduktion. In der Einfachheit zum Größten gelangen! Ähnlich gingen auch Dami Im aus Australien im Jahre 2016 in Stockholm als später Zweite zu Werke oder in antiken ESC-Zeiten Marie Myriam 1977 in London oder Anne-Marie David 1973 in Luxemburg vor, beides Siegerinnen: Die Kameras auf nichts als sie fixiert. Lena hatte diese eine Chance: Nur in sehr kurzer Zeit wirkt diese frisch-fröhliche Naivität auf der Bühne als Performance überzeugend und einnehmend. Sie nutzte sie genial.
Ungewöhnlichkeitsfaktor: Deutlich. Die Sängerin hat vor dem Auftritt vor Abermillionen keine Angst, sie begegnet der Größe des Events wie mit allem, was das Publikum erstaunt an ihr sieht: mit Freude, die sich womöglich aus frischester Naivität speist. Der Faktor "Unangestrengtheit" wird stets unterschätzt. Also: Bloß alles nicht allzu wichtig nehmen!