ESC-Erfolgsrezept: Mut zum Experiment
Ein ungewöhnlicher Act soll für das nächste ESC-Jahr ausgesucht werden. Auf der "ESC-Roadshow" wurde die Analyse der eurovisionären Datensammler von Digame und der Agentur Simon Kucher & Partners vorgestellt. Als gelungen wurden Beispiele seit Ende des ersten Jahrzehnts seit 2000 präsentiert.
Wir stellen bis zum deutschen ESC-Vorentscheid am 22. Februar in Berlin außergewöhnliche ESC-Acts vor aus verschiedenen popmusikalischen Genres - und stellen sie zur Diskussion: Was war an diesen Performances (in der die Mixtur aus Interpret, Lied und Darstellung zum Ausdruck kommt) besonders, was hob sie von anderen ab? Diesmal der neunte Teil der Analysen mit: Rona Nishliu aus Albanien.
Problem der früheren Ostblockländer
Die Zeit, als zur Eurovisionsgemeinde viele Länder des früheren Ostblocks hinzukamen - inzwischen liegt diese Ära ja auch schon paar Jahre zurück: 2004, in Istanbul, kamen beispielsweise aus dieser europäischen Ecke Weißrussland und Albanien. Beide Länder und ihre der Eurovision angehörenden Fernsehsender standen vor dem Problem, das in allen ESC-Ländern bewältigt werden musste, als diese erstmals bei einem ESC mitmachen wollten: Das eigene Publikum liebt mehrheitlich das Übliche, meist Volksmusik und Schlager in der jeweiligen landestypischen Färbung. Aber aus diesem Musiksegment entsandte Acts kamen in anderen Ländern nie gut an. Also mussten die Acts, wenn man nicht wieder ganz weit hinten landen wollte, ein bisschen Internationalität verströmen.
Albanien hatte Glück
Weißrussland schied im Semifinale aus, Aleksandra und Konstantin war so gar nix. Albanien hatte aber Glück: Das Debüt des Landes beim ESC bewältigte die junge Anjeza Shahini sehr schön mit einem siebten Platz 2004 als Lohn. Ihr "The Image Of You" erntete viele Punkte, aber man beleidigt dieses gute Entrée in die ESC-Geschichte nicht, wenn man davon ausgeht, dass sie sehr gut performte, andererseits aber sehr stark von Menschen per Televoting gewählt wurde, die ihre familiären Wurzeln in diesem Land am Mittelmeer haben.
Experimentelles lohnt
Shahini war eine Sängerin, die in jeder Hinsicht ein gewisses Klischee erfüllte, und zwar für so viele ESC-Sängerinnen: eine junge Frau, die einen gefälligen Titel vorträgt und dabei aussieht, als hätte sie irgendeine der Boutiquen in den Fußgängerzonen der Welt ausgestattet, die Haare schön und das Make-up auf klassische Weiblichkeit zurechtgemacht.
Aber mit dieser konventionellen Masche ist es schnell vorbei, wenn man sie als Rezept unentwegt wiederholt. Albanien hat bis 2012 an den Erfolg seines ersten ESC-Jahres nicht wieder anknüpfen können. Mehrmals schaffte man es ins Finale, mehrmals wurde das albanische Lied auch schon im Halbfinale ausgesiebt, da halfen auch nicht so recht die "Televotingstimmen aus der Diaspora" (wie ESC-Abstimmungsanalysten es nennen), also Telefon- und SMS-Kontakte durch Albaner, die in einem der anderen ESC-Länder leben und voten dürfen. 2012 war dies anders, und sie, diese Albanerin, war die eigentliche Sensation des ESC von Baku. Rona Nishliu war nicht "nur" schön, sondern auch gelernte Musikerin und brachte das Lied "Suus" ein - es war in der Tat ganz und gar anders als der sonstige Stoff am Kaspischen Meer.
Exzentrisch, aber freundlich
"Suus" nämlich klingt jazzig, ethnofolkig - und kommt ohne jede süßliche anbiedernde Note daher. Nishliu, die ihr Lied politisch verstanden wissen wollte, mag einen Text von großer Wichtigkeit interpretiert haben - wer kann das schon, nicht des Albanischen mächtig, beurteilen? Wichtiger aber war, dass diese albanische Kandidatin wie ein zwar exzentrisches, aber freundliches Wesen wirkte. Die Haare aufgetürmt im Hippiestil, das Gesicht von Schminke nicht allzu sehr zugespachtelt: Das machte sie extrem interessant für alle, Televoter und Juroren. Sie war die Gegenspielerin zu Loreen, die den Abend von Baku haushoch gewann, aber Rona Nishlius Performance, zumal mit dieser attraktiven Stimme über etliche Oktaven, war ersichtlich eine, die auf konventionelle Muster pfiff. Das brachte ihr immerhin den dritten Platz.
Lust auf Differenz
Exzentrik zahlt sich also oft aus beim ESC. Wer dem Rudel nachläuft, ließe sich sagen, hat schon verloren, wird enttäuschen und ohne gute Gefühle nach Hause reisen. Und das ist nicht auf weibliche Performer beschränkt, dieses Phänomen. Exzentrik hat hier nichts zu tun mit greller Bemalung oder albernen Gesten. Das Besondere kommt als Gesamtpaket daher, die Darbietung muss "echt" wirken, nicht wie ein Konzept "Exzentrisch in drei Minuten, leicht gemacht". Nishliu hat das hübsch hinbekommen, wie auch Raphael Gualazzi, der Zweitplatzierte 2011 in Düsseldorf mit seinem jazzigen Titel "Madness Of Love", der allerdings eher Gnade vor den Jurys fand als vor den Televotern.
Gewöhnliche Sehgewohnheiten charmant umgehen
Albanien hat nie wieder einen solchen Act zum Eurovisionsfestival geschickt, Rona Nishliu blieb die Ausnahme. Erfolg ist also, wenn die gewöhnlichen Sehgewohnheiten charmant und sympathisch unterlaufen werden - ein Risiko sollte eingegangen werden, aber nur mit Künstlern und Künstlerinnen, die es auch zu tragen vermögen.
Ungewöhnlichkeitsfaktor: Groß. Frisur, Kleid, Ausdruck am Mikrofon, eine Botschaft, die nach Wichtigkeit klingt: Jeder Act, der sich von anderen erheblich unterscheiden will, will sorgfältig inszeniert sein, aber die Inszenierung gelingt nur, wenn einer (oder eine) wirklich Lust auf Exzentrik hat. Das birgt Risiken - aber sie können sich lohnen.