ESC-Erfolgsrezept: Anmutige Geheimnisträger
Ein ungewöhnlicher Act soll für das nächste ESC-Jahr ausgesucht werden. Nicht der Kompromiss, sondern Mut zum Unkonventionellen soll bei den Kandidaten und Kandidatinnen belohnt werden. Nicht "Middle of the road", sondern Exzellenz durch - was auch immer. Ein ESC-Act, so ermittelte das NDR Team um Thomas Schreiber, der Erfolg haben will, dürfe nicht nach dem Motto "Allen wohl und niemand weh" charakterisiert sein, sondern durch eben das Besondere, was diese Performance von den anderen hervorhebt.
Wir stellen bis zum deutschen ESC-Vorentscheid am 22. Februar in Berlin außergewöhnliche ESC-Acts vor aus verschiedenen popmusikalischen Genres - und stellen sie zur Diskussion: Was war an diesen Performances (in der die Mixtur aus Interpret, Lied und Darstellung zum Ausdruck kommt) besonders, was hob sie von anderen ab? Heute der 11. Teil der Analysen mit: Kristian Kostov, Aminata und Blanche.
Ein schmaler Grat
Nichts wirkt sich bei einem ESC für einen Künstler oder eine Künstler so schlimm aus wie aufdringliche Ranschmeiße. Ich meine diese Performances, bei denen selbst ein trauriger, liebeskummerhafter Inhalt eines Liedes mit breitestem Lächeln und direktem Blick in die Kameras untermalt wird. Oder mit fast schmerzverzerrter Miene. Doch der Grat zwischen allzu viel Coolness und freundlichem Charme ist schmal, ebenso der zwischen gewinnender Art und anbiedernder Masche.
So singen, als sei es ernst gemeint
Drei Acts in den vergangenen Jahren ragen in gewisser Weise heraus. Sie haben jeweils nicht gewonnen, aber sehr gute Plätze geschafft. Ihre Lieder waren ohnehin modern und smart in den Studios abgemischt, aber sie trugen sie auch noch so vor, als bliebe uns, dem Publikum, ein letztes Geheimnis verborgen: Sie gaben sich nicht vollständig preis. Nun könnte man sagen: Eine Show wie der ESC ist keine Therapiestunde - Lieder sollen nur dargestellt werden. Falsch! Heutzutage muss die Verpackung so sein, dass der Interpret oder die Interpretin wirkt, als meinten sie das, wovon sie singen, auch in persönlicher Hinsicht ernst.
Bulgarien in hübscher Unordnung
Der erste der hier Gemeinten ist der für Bulgarien singende Kristian Kostov, der 2017 ohne den Portugiesen Salvador Sobral gewonnen hätte, jedenfalls jeden der typischen portugiesischen Acts der vielen Jahre zuvor locker zur Seite geschoben hätte. "Beautiful Mess" war wirklich eine eine hübsche Unordnung: Kostov trug mit seinen 17 Jahren - er war der Jüngste unter den Sängern in Kiew - eine ausgesprochen selbstbewusste Show vor, wirkte aber nicht aufdringlich punktebettelnd. Manche sagten hernach, der bulgarische Kandidat habe das schwule Publikum auf seiner Seite gehabt, aber das ist nur die halbe Wahrheit. Denn andererseits wirkte er auch für das heterosexuelle Frauenpublikum zum Anschmachten gut. Sein Lächeln entstammte obendrein keiner Zahnpastareklame. Die etwas nestartige Frisur mag auch noch Sympathien versammelt haben, aber das Lied hatte eine Verführungskraft, die nur vom portugiesischen Lied übertroffen wurde.
Kein Haarspraygebirge bei Belgien
Fast ebenso erfolgreich war die Belgierin Blanche, ebenfalls erst 17 Jahre jung. Kein einziges Schrittchen macht sie auf der Bühne, steht in ihrem schattig-schwarzen und bodenlangen Kleid da, guckt nie gezielt in die Kameras und absolviert "City Lights", ihre drei Minuten über die Lichter der Stadt, nur mit allenfalls gelegentlich angedeutetem Lächeln. Ihr Vortrag ist eine Verführung auf den zweiten Blick: Man kann sich diesen Tönen und dem Vortrag der Chanteuse kaum entziehen. Auch hier liegt das Magische ihres Auftritts in der nur schwer, ja, eigentlich gar nicht inszenierbaren Haltung der Sängerin, die ihr letztese Geheimnis nicht enthüllt - und sich damit nicht entblößt. Möglich, dass es hilfreich war, auf Haarspraygebirge (die sogenannte "ESC-Festfrisur") zu verzichten, auch auf überbordende Modeschmuckstücke. Sie war jedenfalls in Kiew mit dem gleichen Erfolgsrezept unterwegs wie Salvador Sobral: weniger ist mehr.
Sie hat zweieinhalb Mal mehr Punkte von den Televotern erhalten als von den Musikprofis der 42 Jurys. Die größte Zustimmung erhielt sie seitens der Zuschauer vier Mal: Das Publikum von Estland, Lettland, Polen und Schweden hatte sie an oberster Stelle. Von den Juroren erhielt Blanche nur einmal die höchste Punktzahl, und zwar von denen aus Irland.
Elektropop in glühendem Rot
Drittes Beispiel: Aminata aus Lettland, die 2015 mit ihrem "Love Injected" strahlende Sechste wurde, aus Irland, Litauen und San Marino die vollen zwölf Punkte erhielt und beim Juryvoting hinter Schweden gar Zweite wurde. Beim Televoting, der Gunst des Publikums, reichte es zum achten Platz. Was sie aber auszeichnete, war ein kühler Glanz in roter Ästhetik. Die Lichter, das Kleid, die Farbspiele: Das hatte neben dem elektropopartigen Lied eine eigenartig-gewinnende Art. Aminata war cool - und nicht überkühl. Wir, als Publikum, konnten den Eindruck gewinnen, dass da eine die Frage der Liebe sehr ernst nimmt. Es war, nur nebenbei, der beste lettische Beitrag in der Geschichte dieses baltischen Landes nach Brainstorms "My Star" im Jahr 2000.
Ungewöhnlichkeitsfaktor: Wer sich nicht den Zuschauern unterwirft, wer sich dem Publikum nicht zeigt wie eine Weinkönigin in spe, der hat, wenn das Lied ähnlich geheimnisvoll ist, gute Chancen, nicht überhört zu werden. Blanche bewies, dass teure Roben nicht wichtig sein müssen - und Aminata, dass ungewöhnliche Klänge mit dem Ausdruck verhaltener Verzweiflung interpretiert werden können. Mit Kristian Kostov ließe sich schlussfolgern: Wie ein Geheimnisträger der Liebe zu wirken, ist eine hohe Kunst.