Die goldene Ära des Ralph Siegel
Er wird in vielen Ländern Europas als Mr. Grand Prix verehrt. Tatsächlich wäre der ESC ohne ihn nicht zu diesem ebenso geliebten wie verhassten Showformat geworden. Ralph Siegel, von dem hier die Rede ist, hat den ESC von 1979 maßgeblich mit geprägt. Das hat viel mit dem Bayerischen Rundfunk (BR) zu tun, der 1979 in der ARD für diesen Wettbewerb federführend verantwortlich zeichnete. Es waren deutsche Vorentscheidungen mit erstaunlich hohen Quoten. Der Ruhm des Ralph Siegel, der vor 1979 für Luxemburg und die Bundesrepublik (Les Humphries Singers) in Sachen ESC unterwegs war, rührt aus dem Casting der Band Dschinghis Khan, die er mit einem Titel gleichen Namens gewinnen konnte. Diese schlug favorisierte Namen wie Ingrid Peters, Tony Holiday, Hanne Haller, Truck Stop, Paola, Roberto Blanco oder die Gebrüder Blattschuss aus dem Rennen. Der geniale Trick des Ralph Siegel sei knapp beschrieben: Er orientierte sich - so erzählte er mir - am aktuellen Popgeschehen. Und kam auf die US-amerikanische Verkleidungsband Village People. Mit denen im Blick und im Ohr dachte er sich, ein stampfender Rhythmus wie deren Titel "Y.M.C.A." müsse auch auf Deutsch funktionieren. Er hatte Recht. "Dschinghis Khan" zählt - etwa in Israel und Schweden - immer noch zu den beliebtesten ESC-Beiträgen aller Zeiten.
Haushoher Sieg mit Nicole in Harrogate
Siegel hat von den 17 ESC-Kompositionen, die bis zum ESC-Dirigat des NDR seit 1996 international entsandt wurden, neun verfasst. Meist mit Bernd Meinunger als Texter. 1980 verhalf er Katja Ebstein zu einem zweiten Frühling mit "Theater", mehr noch ein Jahr später Lena Valaitis mit ihrem "Johnny Blue". Stets, so erzählte er mir einmal, hatte er ein Auge für Könnerinnen ihres Fachs, die nicht mehr so ganz auf der Höhe ihrer Zeit sangen. 1982 setzte er allerdings auf eine Newcomerin: Nicole, eine junge Frau aus dem Saarland. Sie wurde seine Traumfrau auf der Bühne. Für sie komponierte er "Ein bisschen Frieden". Haushoch gewannen er, Texter Bernd Meinunger und Nicole, 1982 die Vorentscheidung, und schließlich auch in Harrogate.
Andere Titel von ihm sind nicht minder hittauglich gewesen, aber nach Nicole kam als echte Bereicherung der Charts nur noch die Gruppe Wind mit "Lass die Sonne in dein Herz". Kaum zählbar sind die Beiträge, die er noch einreichte und die nicht gewannen - und nicht minder legendenumwoben sind all jene Lieder, die er unter Pseudonym eingereicht hat. Ralph Siegel hat sich mit vielen Liedern unsterblich gemacht, wenn man das von einem Godfather of ESC-Schlager so sagen kann. Er hat auch Gewinnertitel komponiert, die zu recht zum Fremdschämen einluden. Diese luden die zur Kritik der Medien nachgerade ein: "Lied für einen Freund", "Träume sind für alle da" oder auch "Frei zu leben" - sentimentales Gewölk ohne jede Coolness, ohne allen Kontakt zu dem, was international ankommen könnte. Selbst "Wir geben 'ne Party" 1994 von Mekado - ohne Vorentscheidung nominiert - klang noch bieder.
Ära mit bizarren Kostümen
Andere Perlen aus Vorentscheidungen sind hingegen gewachsen: Mary Roos und ihr "Aufrecht geh'n" von Michael Reinecke und Michael Kunze, auch "Rücksicht" von Hoffmann & Hoffmann (wiederum von Michael Reinecke, Text von Volker Lechtenbrink). Nicht zu vergessen Ingrid Peters, die mit einem Hans-Blum-Pompös-Schlager namens "Über die Brücke geh'n" 1986 gewinnen konnte. Und schließlich die gecastete Gruppe Wind, die mit einer Hanne-Haller-Nummer namens "Für alle" das Genre des selig stimmenden Welteroberungsschlagers um eine neue Dimension bereicherte. Die Kostüme jener Jahre sehen mit heutigem Blick bizarr, grell und überkoloriert aus. Die Make-ups der meisten Acts scheinen wie mit dem groben Puderquast auf die Gesichter getüncht. Viele hochgekrempelte Sakkos sah man, die Frauen folgten dem aufgedonnerten "Denver"- oder "Dallas"-Style, glossierten Businessfrauen ähnlich. Dieter Bohlen, Star mit Modern Talking, war auch einmal erfolgreich. Aber sein Lied "Flieger" mit Nino de Angelo mag 1989 für die internationale Konkurrenz in Lausanne ein wenig zu schwermütig gewesen sein.
MDR übernimmt von BR die ESC-Vorentscheidung
Der Mitteldeutsche Rundfunk, aus der Bankrottmasse des DDR-Fernsehens entstanden, sprang 1991 (noch als Deutscher Fernsehfunk) für den sich zurückziehenden BR in puncto Vorentscheidung schließlich ein. Der BR hatte es satt, schlechter werdende Quoten mit moderneren Konzepten zu begegnen. Und Schlager, so hieß es damals in München, sei doch auch gut in der eben abgewickelten DDR aufgehoben: Dort liebte man, so der Glaube, einfältige Melodien und Volksmusikalisches. Dass international der ESC längst Weltmusikalisches, frische Popstile zu integrieren wusste, wurde nicht wahrgenommen.
Der Tiefpunkt jener Jahre mag das Jahr 1991 gewesen sein, als in Berlin eine Retortenband namens Atlantis 2000 unter Buhrufen des Publikums gewann. Das Lied "Unser Traum darf niemals sterben" war (und ist) mit dem Wort unsäglich nur unzureichend beschrieben. Eine auch international wahrgenommene Peinlichkeit. In Rom reichte es nur für den 18. Platz. Immerhin: 1992 fand nach dem Fall der Mauer - abgesehen vom (Ost-)Berliner Friedrichstadtpalast 1991 - die erste Vorentscheidung auf dem früheren Gebiet der DDR statt. In einer Magdeburger Halle in ungemütlicher Atmosphäre. Als Reporter darf ich mich erinnern: Nie fühlte ich mich der gewöhnlichen Popästhetik ferner - die Gruppe Wind gewann wieder einmal. Ihr "Träume sind für alle da", geschrieben von Ralph Siegel, war ebenfalls an ästhetischer Sinnlosigkeit kaum zu überbieten.
Bekannte Moderatoren wie Gottschalk, Reiber, Ebstein
Aus jenen Kreisen, zu denen auch Guildo Horn und Stefan Raab zählten, interessierte sich niemand öffentlich bekennend für den ESC - was bei diesen Vorentscheidungen auch kein Wunder war. Nichts war uncooler in Deutschland als dieses eurovisionäre Festival. Viele verschiedene Moderatoren haben die Vorentscheidungen moderiert, Carolin Reiber (vier Mal), Thomas Gottschalk, Katja Ebstein, Sabine Sauer, Wencke Myhre, Ingrid Peters und Jenny Jürgens - und der wunderbare Hape Kerkeling gleich drei Mal. Das Publikum war durch Meinungsumfragen während der Shows mit beteiligt - Televoting war noch nicht möglich.
Schlusspunkt dieser Ära war ein Duo namens Stone & Stone, das mit "Verliebt in dich" 1995 ohne Vorentscheid nominiert wurde. Angeblich, so erzählen es viele aus der TV-Unterhaltungsszene, soll der damalige MDR-Intendant Udo Reiter geglaubt haben, dem amtierenden Bundeskanzler Helmut Kohl könnte dieses Lied gefallen. Das bayerische Duo belegte in Dublin mit einem Punkt (aus Malta) den allerletzten Rang.
Erneuter Senderwechsel - hin zum NDR
Es war mal wieder Zeit für einen Senderwechsel in Sachen ESC - und es übernahm Ende 1995 der NDR. Nebenbei: Es hat in der deutschen ESC-Geschichte immer wieder kongeniale Partnerschaften gegeben. 1957 sang Margot Hielscher mit "Telefon, Telefon" ein Lied ihres Mannes Friedrich Meyer. Katja Ebstein war 1970 mit dem "Wunder gibt es immer"-Komponisten Christian Bruhn liiert. 1984 hingegen, das Gegenteil, sang Mary Roos mit "Aufrecht geh'n" die Hymne zur Trennung von ihrem damaligen Ehemann Werner ("Gottlieb Wendehals") Böhm.
Meine Top 10 deutscher Vorentscheidungen und deutscher ESC-Titel der Jahre 1979 bis 1995:
- Hoffmann & Hoffmann: "Rücksicht" (1983, 1. Platz)
- Janz: "Steine" (1981, 10. Platz)
- Ingrid Peters: "Über die Brücke geh'n" (1986, 1. Platz)
- Mary Roos: "Aufrecht geh'n" (1984, 1. Platz)
- Fleming & Berry: "Miteinander" (1986, 4. Platz)
- Wind: "Für alle" (1985, 1. Platz)
- Harmony Four: "Tingel Tangel Mann" (1984, 3. Platz)
- Lena Valaitis: "Johnny Blue" (1981, 1. Platz)
- Mary Roos & David Hanselmann: "Lady" (1982, 6. Platz)
- Nicole: "Ein bisschen Frieden" (1982, 1. Platz)