Die Neunziger: Girlie-Outfits und Pailletten-Glanz
Auch wenn es nicht immer einfach war mit ihr, eines kann und sollte man der Mode der Neunziger zugute halten: Sie war sehr tolerant. Es war im vergangenen Jahrhundert wohl das Jahrzehnt, in dem die größte Vielfalt an verschiedenen Stilen nebeneinander geduldet, wenn nicht gar gefordert wurde. Die meisten dieser Modestile standen im engen Zusammenhang mit einer Musikrichtung und waren somit - einmal mehr - ein Statement für ein bestimmtes Lebensgefühl. Obwohl es beim Eurovision Song Contest nicht zuletzt auch um Musik geht, fanden freilich längst nicht alle dieser Moderichtungen ihren Weg auf die ESC-Bühnen.
Der Grunge etwa, der vor allem mit der Musik von Nirvana aus den USA nach Europa herüber schwappte, war nicht so recht mit dem Grand Prix vereinbar. Anhänger des Grunge, was so viel bedeutet wie schmuddelig oder dreckig - fielen optisch oft schon von Weitem durch grobes - nicht allzu ordentlich geputztes - Schuhwerk, Flanellhemden und möglichst zerschlissene Jeans ins Auge. Jedem Teilnehmer des ESC musste klar sein: Mit einem solchen Gärtner-Outfit kann man bei dem Gesangswettbewerb keinen Blumentopf gewinnen.
Größer, auffälliger, schriller
Auch von der Mode, die der Hip Hop hervorbrachte - mit weiten "Baggy Pants" und Turnschuhen - hätte man gedacht, dass sie einen weiten Bogen um den ESC machen würde. 1999 in Jerusalem wagte sich allerdings doch jemand mit einem solchen Outfit ins Finale: Van Eijk aus den Niederlanden wirkte, als käme er direkt vom Basketball-Training - in seinen schwarzen Hosen, den derben Turnschuhen und dem knallroten Chicago Bulls-Trikot darüber.
Ein wichtiges Thema in der Mode sind natürlich immer die Accessoires, an sie wurden in den Neunzigern recht konkrete Anforderungen gestellt: groß, auffällig, schrill. Überdimensionale Ohrringe etwa waren sehr wichtig - manchmal hatte man sogar das Gefühl lebenswichtig. Sie waren auch ESC-like, was sich etwa 1991 in Rom zeigte. Viele der Ladys, wie die Luxemburgerin Sarah Bray oder Dulce aus Portugal - um nur zwei Beispiele zu nennen - trugen so große Kunstwerke an den Ohren, dass man ihnen gern geraten hätte, dies noch einmal mit ihrem Arzt oder Apotheker abzustimmen.
Das Ende des FCKW-Jahrzehnts
Die Frisuren hingegen wurden - gerade im Vergleich zu den Achtzigern - langsam wieder eingedampft. Vielleicht fand dies aus vorauseilendem Gehorsam statt: Im Juni 1990 wurde auf einer internationalen Konferenz zum Schutz der Ozonschicht beschlossen, Herstellung und Anwendung von FCKW schrittweise zu verbieten. Und ohne Haarspray hätten die Frisuren des vorangegangenen Jahrzehnts ohnehin nicht gehalten. Stattdessen setzten sich Haargel und Pomade durch, beim ESC etwa waren hier gleich 1990 Ketil Stokkan aus Norwegen, Anastazio aus Zypern und der Italiener Toto Cutugno total up to date. Letzterer gewann sogar - was aber nicht unbedingt an der Frisur gelegen haben muss.
Ihre ganz eigene Mode schuf sich in den 1990er Jahren die Techno-Szene - und zeigte sich dabei sehr experimentell. Sie benutzte neue Materialien, wie Plastik, Neopren oder Gummi - auch konnten sich die Technojünger für glänzende Stoffe begeistern. Diese fanden auch bei einigen ESC-Teilnehmern Anklang, etwa bei Mia Martini, die 1992 für Italien antrat, die Britin Imaani, die 1998 in Birmingham sang oder bei den Three Times-Sängerinnen aus Malta (1999). Noch beliebter waren allerdings Pailetten, allein 1992 waren sie bei vier Grand Prix-Auftritten vertreten. Die Wind-Sängerin Petra Scheeser hingegen hatte sich gegen ihr Outfit aus dem nationalen Vorentscheid entschieden. Vielleicht hatte die Gruppe schlichtweg Angst, das Publikum könnte Vergleiche zwischen dem glänzenden silbernen Kleid - und dem weniger glänzenden Gesang ziehen.
Der Albtraum aller Eltern
Ein weiterer Trend der 1990er war der Girlie-Look. In Deutschland war hier vor allem Heike Makatsch ein Vorbild, die 1993 als Viva-Moderatorin bekannt wurde. Der typische Girlie-Style brauchte vor allem eines: ein enges, kurzes T-Shirt - gerne auch bauchfrei, damit man beim Recken das Piercing sieht. Kombiniert wurde das Oberteil entweder lässig mit Jeans oder mit Hotpants. Und auch diese - man höre und staune - landeten früher oder später auf der ESC-Bühne, zum Beispiel am Körper der Sängerin Miriam Christine, die 1996 für Malta antrat.
Wahlweise konnten Girlies aber auch Kleidung tragen, die bei ihren Eltern Reaktionen von Kopfschütteln bis nervöse Zuckungen auslöste: zu kurz, zu durchsichtig, zu wenig. Ein Paradebeispiel dafür war die Britin Gina G. Mit "Ooh Aah ... Just A Little Bit" legte sie nicht nur einen ziemlich fetzigen Song hin, sie tat das obendrein auch noch in einem gewagten 5.000 Pfund teuren Paco Rabanne-Fetzen, der aus lauter Goldimitatmünzen bestand. Ja, die Neunziger waren eben ein bisschen speziell. Aber die gute, wenn nicht die beste Nachricht im modischen Bezug auf dieses Jahrzehnt ist: Es ist überstanden.