Netta Barzilai ist Favoritin auf ESC-Krone
Seit Mitte voriger Woche liegen alle 43 Beiträge für Lissabon vor, Georgien war der letzte im diesjährigen Tableau, der mir bekannt wurde. Im Internet, in den Fanforen, tobt seither das für diesen Teil der ESC-Hochsaison Typische: Man spekuliert. Wägt ab und erörtert, findet nichtig und anderes ganz und gar wunderbar. Oder überschätzt womöglich viel zu stark Bewertetes. So geht es mir auch: Weshalb das zwar schöne, aber doch auch langweilende spanische Lied von Amaia und Alfred in den Top Ten der Wettbörsen gerankt wird, ist mir nicht plausibel. So gar nicht. Das ist pure Tröpfelei, wo es doch einen tüchtigen Rasensprenger bräuchte. Dass Michael Schulte in der gleichen Tabellarik aus den höchsten Rängen auf Platz 17 fiel, ist mir andererseits egal. Der wird schon gut abschneiden, jedenfalls besser als der geweissagte Platz.
Wettbörsen sind keine Fanforen
Aber die Wettbüros sind keine Fanbörsen, hier spiegeln sich die Einsätze von Menschen, die einen sehr kalkulierenden Blick auf die 43 Acts werfen. Deren Analyse fragt nicht: Finde ich gut oder doof, geschmacklich entglitten, verfehlt oder prima? Sie fragen: Strahlt ein Act Sympathie aus, ist er geeignet, an einem Abend einen Kompromiss zu bilden, so, dass er wählbar ist? Ist der Interpret, ist dessen Lied interessant - neu, aber nicht zu experimentell? In allen 43-Acts-Listen, die im Internet zu hören sind, wie etwa von Toni ESC, ESC TOP-X oder ESC Belgium, kristallisieren sich gewisse Acts heraus, die in der Regel alle vorne oder ganz weit hinten liegen.
Auch die Schweiz rangiert unter "ferner liefen"
Unter "ferner liefen" rangieren San Marino, Slowenien, Island, Montenegro, die Schweiz, Albanien und Georgien - das sind alle sehr gemühte Kunststücke, die entweder zu ranschmeißerisch, zu lärmend, zu ungefällig oder zu beliebig ausfallen. Zibbz aus der Schweiz sind bei einigen allerdings höher gewertet, wie auch Österreichs Cesár Sampson und sein Lied "Nobody But You". Allerdings ist sein Beitrag etwas für Connaisseure, die sich dieses Lied schon schöngehört haben und es am liebsten immer wieder in die Ohren tröpfeln lassen möchten.
Bei Fans das liebste jugoslawische Lied ist das kroatische, aber Franka und ihr "Crazy" sind so konventionell überinteressant, so ersichtlich auf den ESC hin arrangiert, dass es schwer wird, sich überhaupt im Finale wiederzufinden. Die Acts aus dieser Ecke der Eurovisions-Zone haben 2018 ohnehin nicht so viel Interessantes zu bieten. Das mag jeder persönlich anders sehen, aber nur mit etwas Glück wird es mehr als ein Lied von diesen ins Grand Final am 12. Mai schaffen. Außerdem ist viel Hardrock dabei, einiges an Elektronischem, manches an Klassischem (Abendkleid, kreischige Stimmen, überwiegend weiblich, manchmal männlich), was auch für Islands Ari Ólafsson und sein "Our Choise" gilt. Hübsch, aber in der Masse einer Show überhörbar, seiner guten Stimme zum Trotz.
Kandidaten mit Chancen
Womit der Blick auf die interessanten Acts fällt. Frankreich fällt mit "Mercy" auf, die Niederlande mit dem Hard-Country-Ding von Waylon ebenso, weil es ein tolles mackerhaftes Gesangsintro hat, auch Schwedens Benjamin Ingrosso wird zu Unrecht der Plätscherigkeit geziehen, sein "Dance You Off" provoziert nicht, ärgert aber auch nicht. Es ist eine moderne Nummer und wird sich oben wiederfinden. Der Tscheche Mikolas Josef und seine Aufforderung "Lie To Me" wird der Elektrohaftigkeit seines Liedes wegen das beste ESC-Resultat für sein Land einfahren - es ist einfach mal ein Lied aus Prag, das nicht gestrig wirkt.
Australien bleibt abzuwarten. Jessica Mauboy und ihr "Wet Got Love" ist so mainstreamig, dass man es glatt gleich vergisst. Ins Finale und in die höheren Rankingregionen wird sie aber es schaffen. Norwegen mit Alexander Rybak nervt viele Fans, weil er so aussieht wie vor neun Jahren in Moskau und auch so singt, überhaupt ist "That's How You Write A Song" ein wenig selbstverliebt, aber diesen Narzissmus weiß Rybak sympathisch und hochprofessionell auszustellen: Magie als Konfektionsware.
Von Oper bis Rock - doch Israel bleibt Favorit
Um zu den sicheren Favoriten zu gelangen: Die estnische Pseudo-Opernnummer "La Forza" von Elina Netschajewa fällt schon deshalb auf, weil sie schön singt und es von dieser Art keine andere Nummer gibt. Dänemarks Rasmussen ist auch nicht übel, hoffentlich nimmt ihm das Televotingpublikum den Hipsterbart nicht übel. Die bulgarische Formation Equinox könnte gar gewinnen, aber sie müssten, wenn sie schon von "Bones" singen, etwas mehr gute Laune verströmen. Die hat die Belgierin Sennek zwar auch nicht, aber ihr "A Matter Of Time" ist ein potenzielles Siegeslied, wenn sie in der Show nach einer Ballade und vor einem härteren Stück auftreten kann. Tragisch, dass Portugal die nach Salvador Sobrals Siegesnummer beste Komposition am Start hat - Cláudia Pascoals "O Jardim" wird garantiert sehr weit vorne landen.
Aber sie alle haben nicht diese forsche und fordernde Zugewandtheit, ja, elektrisierend-heitere Art, die Netta Barzilai auf die Bühne bringt. Ihr "Toy", beziehungsweise ihr rap-elektronisch vorgetragenes Statement, kein Spielzeug von Männern zu sein, zeigt sich in den Wettbüros so: Sie ist als Favoritin deutlich an erster Stelle. Wer auf sie tippt, erntet keinen großen Betrag, wenn sie wirklich gewinnt. Dass man sich an ihren Sound erst gewöhnen muss, weil er mit dem israelischen "Hallelujah" von 1979 in puncto Wohlklang so gar nichts zu tun hat, ist einerlei. Sie gehört zu den heißesten Kandidatinnen auf die Krone der Nacht auf den 13. Mai.
Und Michael Schulte? Finde ich nach wie vor gut, sehr gut. Es fällt aus dem Rahmen, es ist sacht und kraftvoll zugleich. Niemand sonst wagt sich in das Segment "Trauriger junger Mann singt ein nicht allzu aufgedröhntes, sensibles Lied". Top Ten.