Rückblick: ESC wird zur "Schlagereuropameisterschaft"
Einige osteuropäische Länder hatten schon in den Neunzigern beim ESC ihr Glück gesucht - 2003 kam die Ukraine hinzu. Im Jahr darauf war es die sich durchaus politisch verstehende Sängerin Ruslana, die mit "Wild Dances" in Istanbul 2004 den ESC gewinnen konnte. Weil damals Max Mutzke, aus der Sicht seines Mentors Stefan Raab, nur den achten Platz schaffte, sprach er als einer der Moderator des ESC 2011 zornig von osteuropäischen Punkteblöcken. In Wahrheit, scheint mir, hatten jene Länder, die einst zur sowjetischen Einflusssphäre zählten, die besseren Angebote beim ESC parat.
Große Plattenfirmen unterstützen den ESC
Jedenfalls: Albanien, Andorra und Weißrussland gaben 2004, Bulgarien und Moldawien 2005, Armenien 2006, Tschechien, Montenegro, Georgien und Serbien 2007 und Aserbaidschan und San Marino 2008 ihr Debüt. Die ESC-Community war inzwischen fast so groß wie die des europäischen Fußballverbandes UEFA. Das Wort von der "Schlagereuropameisterschaft" (Ex-Moderator Thomas Hermanns) traf immer mehr zu - wenn es auch gar nichts mit dem Stoff zu tun hatte, den wir in Deutschland mit dem Wort "Schlager" verbinden. Hinter fast allen ESC-Liedern aus allen Ländern stand (und steht) eine Major Company der Plattenindustrie. Universal Music beispielsweise sponserte über Jahre direkt die griechischen Vorentscheidungen, weil die ESC-Pre-Selections für die ökonomische Seite der Musikwirtschaft eine ideale Plattform waren.
Im Übrigen war der ESC längst zum Event geworden. Nur noch in mächtigen Hallen wurden die Contests veranstaltet und die Tickets hatten zur Refinanzierung des Projekts beizutragen. Nachdem Lena 2010 in Oslo endlich das zweite Mal für Deutschland den ESC gewann, stieg im Jahr darauf das Festival im Düsseldorfer Rheinstadion. Das dritte Mal, nach Kopenhagen 2001 und Oslo 2010, reichte eine Showhalle nicht, es musste eine überdachte Riesenarena sein.
Seit 2008 gibt es zwei Halbfinals
Eine der wichtigsten Erweiterungen war 2004, dass es nicht mehr nur ein Grand Final gab, sondern eine Qualifikationsrunde, wobei die zahlungskräftigen Länder Deutschland, Großbritannien, Frankreich und Spanien fürs Finale gesetzt sind - mit seinem Comeback 2011 auch Italien. Mit dem 53. ESC 2008 in Belgrad etablierte man zwei Halbfinals. Mit anderen Worten: Seit damals ist aus dem ESC eine ESC-Festwoche geworden.
Im Übrigen wurde spätestens mit der starken Präsenz von Ländern, die mit der Osterweiterung dazukamen, debattiert, ob sich Osteuropa nicht verschwöre gegen den Westen. Die Reference Group des ESC erörterte diese Frage mehrfach. Heraus kam: Unter allen Umstände, nach welchem Wertungsmodus auch immer, hätten die Sieger gewonnen. Wer sich nur auf Nachbarschaftsstimmen verlässt, gewinnt nicht. Man braucht mittlere Werte auch von Ländern, die einem sonst nicht so gewogen sind: Lena erhielt unüblicherweise Punkte aus Kroatien. Das machte ihren Sieg möglich.
"Diaspora-Wertung" seit Ende der neunziger Jahre
Sicher ist nur, dass eine sogenannte "Diaspora-Wertung" registriert wurde, schon seit Ende der neunziger Jahre. Türkische Bürger in Deutschland stimmen "türkisch", also aus dem Ausland für die Türkei. Oder Letten in Dublin für Lettland. Das führte sehr wohl zu Unwuchten im Resultat. Aber, so hieß es aus der Reference Group, Europa sei auch ein Kontinent, auf dem Menschen ihre Heimat verlassen und woanders Arbeit suchen (müssen). Insofern: Das Problem sei hinnehmbar. Seit 2009 ist das reine Televoting nicht mehr geltend. In allen Ländern gibt es nun sogenannte 50/50-Wertungen: Televoting und Juries, die aus Musikspezialisten bestehen müssen.
Viele Siegerlieder wurden Hits
Insgesamt gilt, dass viele der Siegerlieder (und nicht nur diese) Hits wurden und sich auf dem Tonträgermarkt verkauften. Am stärksten Loreens "Euphoria" aus dem Jahre 2012, aber auch Lenas "Satellite" 2010. Auch The Common Linnets aus den Niederlanden, Zweite voriges Jahr in Kopenhagen, hatten ihr "Calm After The Storm" in die Charts bringen können, sogar mehr als ein Vierteljahr lang. Offenkundig ist: Pop kann vieles sein, beim ESC gilt es, populär die Geschmacksnerven der meisten zu treffen.
Stefan Kuzmany, Chef der Meinungsabteilung bei "Spiegel Online", schrieb nach der deutschen Vorentscheidung neulich in Hannover, den ESC generell im Blick: "Der Eurovision Song Contest ist im Kern kein Wettbewerb um das beste Lied, das ist jedem klar, der diese Veranstaltung jemals verfolgt hat. Er ist ein Spektakel der Kostüme und Choreographien, vor allem jedoch ist er einer der wenigen Orte im Mainstream-Fernsehen, wo queere Kultur massentauglich gemacht wird. Beim ESC werden Geschlechterrollen aufgehoben und vor einem Millionenpublikum neu verhandelt." Wobei zu sagen ist: Es hat noch keinem ESC-Kandidaten geschadet, mit einem sehr guten Lied anzutreten. Nur desinteressiert darf ein Act nicht daherkommen. Insofern: Der ESC ist unkaputtbar. Oder?
Meine Top 10 von 2004 bis 2014
- The Common Linnets: "Calm After The Storm" (Niederlande 2014, 2. Platz)
- Željko Joksimovic: "Lane Moje" (Serbien & Montenegro 2004, 2. Platz)
- Rona Nishliu: "Suus" (Albanien 2012, 5. Platz)
- Sjonni's Friends: "Coming Home" (Island 2011, 20. Platz)
- Noa & Mira Awad: "There Must Be Another Way" (Israel 2009, 16. Platz)
- Maria Haukaas Storeng: "Hold On Be Strong" (Norwegen 2008, 5. Platz)
- Lena Philipsson: "Det gör ont" (Schweden 2004, 6. Platz mit der englischen Fassung)
- Marija Šerifović: "Molitva" (Serbien 2007, 1. Platz)
- Boaz Mauda: "The Fire In Your Eyes" (Israel 2008, 9. Platz)
- Urban Symphony: "Rändajad" (Estland 2009, 6. Platz)