Italienischer Rock schlägt Frankreichs Chanson und Schweizer Falsett
Vier junge Italiener aus Rom liegen sich freudestrahlend in den Armen und jubeln - da ist es 0.45 Uhr in der Rotterdamer Ahoy Arena. Måneskin gewinnen mit "Zitti e buoni" und satten 524 Punkten den 65. Eurovision Song Contest. Als sie die begehrte Trophäe auf der Bühne in Empfang nehmen, sagt Sänger Damiano David zunächst noch still und leise "Oh my god", dann bricht es aus ihm raus und er ruft "Rock'n'Roll never dies" ins Publikum. Ihre harte Rocknummer, die auf Deutsch übersetzt "Still und brav" heißt, hat an diesem Abend Balladen und Popsongs klar ausgestochen. Als Måneskin den Siegertitel noch einmal singen, danken sie nicht nur ihrem Heimatland "Thank you, Italia", sondern auch "Thank you, Europe". Schon im Vorfeld gilt die Band aus Italien als Favorit, doch zunächst sieht alles nach einem Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen zwei frankophonen Ländern aus: Schweiz und Frankreich. Nach der Punktevergabe der Jury führt Gjon's Tears noch vor Barbara Pravi. Doch die Televoter wirbeln das Ergebnis noch einmal durcheinander. Ihre Punkte katapultieren Måneskin an die Spitze der 26 teilnehmenden Länder.
Måneskin "sind anders", "sind verrückt"
Die 24 ist die Startnummer zum Glück: Als Måneskin die Bühne betreten, fängt die Kamera Damiano David ein. Dunkelrote, enge Lederhose, Lederhalsband und Kajalstift unter den Augen - der charismatische Sänger ist eine Erscheinung, obwohl gerade mal 22 Jahre alt. Zusammen mit Victoria de Angelis am Bass, Ethan Torchio am Schlagzeug und Gitarrist Thomas Raggi bietet er eine fulminante Show voller Energie. Mit ihrer androgynen Art reißen sie glaubwürdig Grenzen nieder. "Rotterdam, make some noise", ruft Sänger Damiano David in die Menge - das Publikum hält es nicht mehr auf den Sitzen. Musikalisch klingen Måneskin radikal und verrucht, der Text zu "Zitti e buoni" ist aber auch poetisch: "Aber wenn du den Sinn der Zeit findest, kommst du aus deinem Vergessen zurück", heißt es da. Sie skandieren aber auch: "Wir sind anders, wir sind verrückt." Herrlich verrückt fegt der italienische Orkan zur Pyro-Show mit Goldregen über die Bühne. Congratulazioni Italia!
Barbara Pravi bringt den Chanson zum ESC zurück
Aber es ist auch ein frankophiler Abend in Rotterdam. Wer hätte im Vorfeld gedacht, dass gleich zwei französischsprachige Beiträge auf den vordersten Plätzen landen? Sicher waren Barbara Pravi und Gjon's Tears unter den Favoriten. Aber beide müssen dieser Rolle gerecht werden. Im Finale tun sie dies, mit viel Überzeugung und ähnlichem Konzept. Beide stehen allein auf der Bühne, beide verzichten auf zu viel Show. Barbara Pravi nimmt uns mit in die guten Zeiten des Chansons. Als sie "Voilà" singt, steht sie in einem Lichtkegel. Schließlich fliegen die Silhouetten von Vögeln in die Luft. Das ist leicht, aber vor allem emotional und berührend. Auch wenn das "Voilà" ein bisschen oft kommt - tant pis, macht nichts. Französischer kann Frankreich nicht klingen. Platz zwei ist hoch verdient.
Schweizer Gjon's Tears ist Sieger der nationalen Jurys
Emotional ist auch der Auftritt von Gjon's Tears, weil er fühlt, was er singt. Es ist fast unbeschreiblich wie uns der Schweizer bei "Tout l'univers" mit in sein Universum nimmt. Er schwankt über den Boden, der unter ihm aufzugehen scheint, und befindet sich zwischen Diesseits und Jenseits. Großartige Lichteffekte komplettieren das schwarz-weiße Bühnenbild. Dazu trifft der 22-Jährige mit seiner Falsett-Stimme jeden Ton. Ein sphärischer Auftritt, der die meisten Jurypunkte bekommt, aber in der Summe mit den Televoter-Stimmen schließlich einen hervorragenden dritten Platz erreicht.
Island in der Ahoy Arena abwesend und doch mehr als da
Ein bisschen wie ein Sieger darf sich auch Island an diesem Abend fühlen. Daði og Gagnamagnið können aufgrund eines positiven Corona-Falls in der Band nicht live auftreten. Doch das scheint kein Nachteil zu sein. Wie schon im Halbfinale gibt es eine Live-on-Tape-Einspielung von der zweiten Probe zum Song "10 Years", inklusive lässigem Hüftschwung, der Liedzeile "I like" und einer kreativen Kunstpause, bevor die Pyro-Fontänen nach oben steigen. Die Band verfolgt das Geschehen aus einem Green Room in ihrem Hotel, zwei Personen sogar nur via iPad. Für ihre Solidarität untereinander sind sie auf jeden Fall Sieger der Herzen, in Rotterdam landen sie auf einem guten vierten Platz. I like!
Lange Gesichter bei Big-Five-Ländern und Gastgeber Niederlande
Für die gesetzten Länder ist es kein leichter Abend. Eine komplette Nullnummer legt Großbritannien hin, keine Punkte von der Jury sowie keine von den Televotern bekommt James Newman für "Embers" und seine überdimensionierten Trompeten. Das ist Platz 26 - und ein Untergang für das Mutterland des Pop. Dem deutschen Kandidaten Jendrik geht es mit "I Don't Feel Hate" nicht viel besser. Mit Nummer 15 ins Rennen gegangen, wirft er seine silberne Ukulele in die Luft, steppt und spricht sich gegen Hass in den sozialen Netzwerken aus. Am Ende gibt es von den Televotern ebenfalls nur null Punkte, drei von der Jury. Deutschland reiht sich auf Platz 25 ein. Nur einen Rang besser schneidet Blas Cantó aus Spanien ab, Jeangu Macrooy holt für den Gastgeber lediglich einen 23. Platz.
Songs mit Botschaften bleiben in Erinnerung
Insgesamt ist es ein besonderer Abend mit besonderen Botschaften. In den Songs von Destiny aus Malta und Manizha aus Russland geht es um das Selbstbestimmungsrecht der Frau. Das kommt bei Jury und Publikum an, beide landen in den Top Ten. Und das ist gut so. Denn bloße Popsongs aus Serbien und Moldau mit Titeln wie "Loco Loco" oder "Sugar" scheinen nicht mehr zeitgemäß - und sind nach den drei Stunden Show schnell wieder vergessen. Unvergessen aber bleibt dieser ESC, weil Rotterdam als Gastgeber diesen Contest möglich gemacht hat. Neben den rund 180 Millionen an den Bildschirmen sind 3.500 Zuschauer in der Halle dabei, alle negativ getestet. Angesichts einer weltweiten Pandemie stimmt dieser Abend zuversichtlich, solche Events auch zukünftig erleben zu dürfen.