Russland und seine Nachbarn fast unter sich
Über Geschmack lässt sich ja nicht streiten, oder nur bedingt. Denn wer weiterkommt beim ESC, wer sich im Semi für das Grande Finale qualifiziert, darüber entscheidet offenbar doch mehr die gefühlte oder tatsächliche Nachbarschaft als die ästhetische Spontanentscheidung. Es ist verkraftbar, dass die dänischen Sixties-Jungs, die finnischen Punker oder die niederländische Schmuserockfrau nicht am Samstag weitermachen dürfen. Aber auffällig ist doch, dass sich überproportional viele Länder durchgesetzt haben, die sich dem Osteuropäischen verbunden fühlen.
Griechin überzeugte nicht
Und dazu zählt natürlich auch das griechische Lied, über das man - bei aller Liebe - nicht streiten kann: Es war grottig auf die schlechteste pompöseste Art, die sich grandprixesk nur denken lässt. Armenien, Estland, Serbien, Ungarn, Albanien, Rumänien und Georgien haben Millionen russischstämmige Menschen in ihren Ländern wohnen - oder solche, die sich in den letzten Jahren versuchen, stärker an Moskau anzulehnen. Die westliche Tradition des Pop fiel durch die Raster der überwiegend osteuropäischen Televoter und Juroren.
Ostblock ist am Leben
Der Ostblock ist wieder am Leben - wo man doch einige Jahre dachte, es sei allmählich egal, aus welchem Land ein Lied kommt: Hauptsache es ist gut und taugt mehr als ein ästhetischer Notbehelf. Selbst sentimentaler Unfug wie das Lied der Ungarin oder das eher seichte armenische Buhlen um Aufmerksamkeit für den Völkermord an Armeniern vor 100 Jahren kamen weiter. Das ist musikalisch schwer zu akzeptieren, aus demokratischen Gründen muss man es natürlich.
Dass auch Weißrussland, Moldau und Mazedonien nicht weiterkamen, spielt für diese Bewertung keine Rolle. Deren Lieder waren noch so fadenscheinig, dass sie durch kein Votum mehr ins Finale hätten gehievt werden können. Im Übrigen sind die Wettprognosen in allen europäischen Ländern gar nicht mal so schlecht gewesen. Lediglich zwei falsche Weissagungen können berichtet werden: Finnland hätte es nach den Wetteinsätzen schaffen müssen, ebenso Weißrussland.
Russin mit fragwürdiger Botschaft
Als hohe Favoritin auf einen Top-drei-Platz - mindestens - muss nach ihrer Performance im Semi die Russin Polina gelten. Bei aller Fragwürdigkeit ihrer Botschaft - ein Lob der Vielfältigkeit und auf den Frieden - bleibt doch offenbar der Eindruck hängen, dass sie eine großartige Sängerin ist, die sich schwerst in ihr Lied reinhängt. Jurys und Televoter könnten das auch so gesehen haben. Am wichtigsten für sie ist wahrscheinlich gewesen, dass klar sichtbar wurde: Ich komme aus Russland. Estland ist ästhetisch gesehen ohnehin zurecht im Finale. Und Loїc Nottet mit dem charttauglichsten Lied ist ein Trost. Lang lebe Belgien!