Armenien: Genealogy
Sechs Künstler aus fünf Erdteilen bilden das armenische Bandprojekt Genealogy. Ihr Auftritt mit einer brisanten politischen Botschaft landet im Finale 2015 im Mittelfeld.
Die Armenier möchten 2015 in Wien auf das dunkelste Kapitel in der Geschichte ihres Volkes aufmerksam machen. Dafür schicken sie das Bandprojekt Genealogy (engl. für Abstammung, Ahnenforschung) ins Rennen. Der Beitrag, den die kleine Kaukasusrepublik für ihre neunte Teilnahme am Eurovision Song Contest ausgewählt hat, trägt den beschwörenden Titel "Face The Shadow" ("Stell dich dem Schatten") und fordert im Refrain "Don't deny" - leugne nicht!
Schatten der Vergangenheit
Was hier nicht geleugnet werden soll, ist eines der großen Verbrechen des 20. Jahrhunderts. Während des Ersten Weltkriegs starben im damaligen Osmanischen Reich nach Schätzungen bis zu 1,5 Millionen Armenier infolge von Massakern, Deportationen und Todesmärschen. Der von der osmanischen Regierung verantwortete Genozid wird bis heute in der Türkei offiziell nicht als solcher anerkannt.
Stimmen der armenischen Diaspora
Genealogy setzen sich aus einer Sängerin aus Armenien und fünf Künstlern aus den verschiedenen Erdteilen zusammen, die die armenische Diaspora vertreten: der Franzose Essaï Altounian, die New Yorkerin Tamar Kaprelian, die in Tokio lebende Stephanie Topalian, der in Äthiopien geborene Vahe Tilbian, Mary-Jean O'Doherty Vasmatzian für Australien sowie Inga Arshakyan, die als Teil des Duos Inga & Anush bereits 2009 mit "Jan Jan" für Armenien angetreten ist.
Vergissmeinnicht
Symbolisch stehen die fünf plus eins Musiker für die Blütenblätter und den Stempel des Vergissmeinnicht, das Emblem der armenischen Gedenkfeierlichkeiten zum 100. Jahrestag des Beginns des Völkermords. Alle Künstler wurden in einem internen Verfahren des öffentlich-rechtlichen Senders AMPTV ausgewählt. Das ebenfalls intern ermittelte Lied "Face The Shadow" soll eine weltumspannende Brücke bilden: "Sechs Künstler, sechs Schicksale, aber eine Geschichte" heißt es in einem offiziellen Trailer. Der von Armen Martirosyan komponierte und von Inna Mkrtchyan getextete Song betont "universelle Werte" und beschwört die Bindung zu Familie und Herkunft.
Ein politisches Lied? Im Prinzip nicht …
Es ist nicht das erste Mal, dass auf das Schicksal der Armenier bei einem ESC-Wettbewerb aufmerksam gemacht wird. 2010 in Oslo behandelte Eva Rivas im Lied "Apricot Stone" ebenfalls das Thema. Die Frage, ob "Face The Shadow" politisch ist und somit gegen die ESC-Statuten verstößt, beantwortete AMPTV im Stil von Radio Eriwan: im Prinzip nicht. Vorsorglich verzichtete man jedoch auf den ursprünglichen Titel "Don't Deny", der war dann wohl doch ein wenig zu offensiv.
Gut gemeinte Popballade
Bis auf 2011 haben es Beiträge Armeniens immer ins Finale geschafft. Nach dem letztjährigen vierten Platz des von vielen favorisierten Beitrags von Aram MP3 ("Not Alone") in Kopenhagen und bei insgesamt fünf Finalteilnahmen seit 2006 waren die Erwartungen in der ehemaligen Sowjetrepublik groß. Und auch dieses Mal nimmt Armenien die Halbfinal-Hürde. Doch im Finale in Wien konnte "Face The Shadow" musikalisch nicht überzeugen. Die von Klavier, Streichern und E-Gitarren getragene Popballade verbindet Soul-, Rock- und Klassikelemente - allerdings sind weder Arrangement noch Melodie besonders originell. Armenien landete damit auf Platz 16.