Duncan Laurence wird gewinnen! Wirklich?
Seit Anfang der Woche kennen wir alle Konkurrenten des ESC von Tel Aviv. Nach dem Rückzug des ukrainischen Acts MARUV bleiben nun 41 Acts übrig, Sängerinnen, Sänger - und Bands. Noch gut zwei Monate sind es bis zum Finale am 18. Mai, wobei bis auf die fünf großen Eurovisionsländer und Gastgeber Israel ja aus 35 Beiträgen in den zwei Semis (14. und 16. Mai) noch 15 aussortiert werden, ehe das letzte Rennen um die Krone des 64. Eurovision Song Contest stattfinden wird.
Bis dahin herrscht pure Spekulation, mehr oder weniger begründete. Besser: Bis zum Finale spiegelt sich das mögliche Endresultat in den europäischen Wettbüros. Die Basis der Wetten ist der volle Reigen der 41 Lieder - meist sind es Videoclips aus den Vorentscheidungen, manchmal, wie beim Italiener Mahmood, handelt es sich um die offiziellen Videos, die eigens für den internationalen Musikdreh produziert worden sind.
Favoriten: Niederlande, Russland, Schweden
Klar vorne ist bislang der Niederländer Duncan Laurence mit seiner Nummer "Arcade", seine Gewinnchance liegt aktuell bei 21 Prozent, was ein hoher Wert ist. Der Russe Sergey Lazarev rangiert hinter ihm mit seinem "Scream", nur knapp einen Platz weiter sehen Wetter den Schweden John Lundvik mit seinem frisch beim Melodifestivalen zum Sieger seines Landes gekürten "Too Late For Love".
Keine Überraschung ist auch, dass der Schweizer Luca Hänni mit "She Got Me" das beste eidgenössische ESC-Resultat seit Sebalters "Hunter Of Stars" nach Hause bringen könnte; nach 2014 war man immer im Semifinale ausgesiebt worden. Der Mailänder Mahmood mit seinem "Soldi" befindet sich auch unter den Favoriten.
Wetter sind nicht unbedingt Fans des ESC
Klar: Einige können gewiss noch in den Kreis der Sieges- oder Top-3-Aspiranten aufrücken, aber die Wetter, die in den vergangenen Jahren immer einen guten Riecher für die von ihnen vermuteten Platzierungen hatten, haben nicht den persönlichen Geschmack als Maßstab ihrer Geldeinsätze angelegt. Sie haben vielmehr, mit kühlem Blick darauf, was interessant und dann auch noch überzeugend im Gesamtpaket ist, investiert. Nämlich Text und Musik eines Liedes, das Arrangement, Sängerin und Sänger, Anmutung einer Performance, Sympathie- oder gar mögliche Antipathiefaktoren. Wetter, mit anderen Worten, müssen keine ESC-Fans sein.
Auf den hinteren Rängen der aktuellen Wettstände liegen, man muss es sagen, sehr zutreffend, die vermuteten Semifinal-Lieder, die aus der Konkurrenz geworfen werden, etwa Montenegros D-Moll mit "Heaven", Serbiens Sängerin Nevena Božovič, Serhat aus San Marino, Georgiens Oto Nemsadze, Albaniens Jonida Maliqi und auch Kroatiens Roko Blaževič. Viele exjugoslawische Lieder sind unter momentan verworfenen Acts, und es deutet nicht viel darauf hin, dass es um sie in Tel Aviv besser stehen wird. Aus dieser Ecke Europas kommt dieses Jahr meist sehr konventionelle ESC-Ware.
Verschiebungen sind möglich - nach den ersten Proben in Tel Aviv
Jeder hat das Recht, auch noch die abseitigsten Lieder gut zu finden, niemand soll richten über Fans, die eigentlich chancenlose Acts verehren und bei sich auf Heavy Rotation setzen. Aber aus der mittleren Distanz, ohne sich die 41 Lieder allzu schön zu reden, klingt so viele Lieder wie ein mehr oder weniger gut durchgerührter Brei: ununterscheidbar.
Einige Aspekte in den Wetten bleiben trotzdem fragwürdig. Dass beispielsweise Leonora und ihr "Love Is Forever" bei niemanden so echt oben auf dem Zettel steht. Dabei verströmt der dänische Beitrag die Schlichtheit schlechthin, eine Art Variante von "Lemon Tree" - das wirkt auf das Publikum, das im Mai die Lieder erstmals hört, sehr überzeugend. Und dass Polens Frauen von Tulia im Semi hängen bleiben, halte ich für unwahrscheinlich. Erstens gibt es in vielen Ländern außerhalb Polens polnische Migrationscommunitys, zweitens jedoch ist ihr Lied anmutig, energisch und schrill zugleich: Das Publikum wird sie lieben. Auch Ungarns Joci Pápai kann bei seinem zweiten ESC-Einsatz sehr gut, obwohl aktuell als Verliererkandidat gehandelt, ins Finale kommen - er wirkt einfach sehr sympathisch, und die ungarische Sprache wird niemanden stören.
Live zählt ohnehin am meisten. Gespielt wird, wie es beim Fußball heißt "auf'm Platz" - nicht in der Theorie, die sich beim ESC ja nur aus Videoclips zusammensetzt, bis zum Mai. Voriges Jahr lag Michael Schulte in den Wetten bis zu seinen ersten Proben in Lissabon, im hinteren Mittelfeld, sozusagen "unter ferner sangen". Das wird auch mit den deutschen S!sters so sein, die aktuell in den Wetten eher nicht so die Favorisierten sind - live sind sie einfach ziemlich gut und überzeugend. Portugals Salvador Sobral war in seinem Land bis zu den ESC-Tagen in Kiew nicht sehr beliebt - ehe er von Tag zu Tag zum einzigen Siegeskandidaten wurde.
Wie immer: Viel zu viel Schwermütiges
Wahrscheinlich sind alle Sängerinnen und Sänger gut bedient, wenn sie ein Lied zu bieten haben, das nicht allzu schwermütig und problembeladen daherkommt. Schwung und Frische kommen beim Publikum immer gut an, also bei den Televotern. Insofern hat der Niederländer Duncan Laurence noch zu kämpfen. Momentan scheint mir, dass die Fans, die ihre Tipps in Wettbüros platzieren, den Holländer deshalb mögen, weil er während der drei Minuten seines Liedes im Clips nackt in einem Gewässer taucht. Soviel ist jedoch sicher: Auf der Bühne sich textillos zu zeigen, wird auch in Tel Aviv verboten sein.
Für mich sollte nur einer Sieger werden: der Italiener Mahmood.