Abba: Die ESC-Revolutionäre
Für die allermeisten ESC-Fans heutiger Tage liegt so gut wie alles, was vor 1990 war, eher im Dunkeln. Und man möge mich jetzt nicht belehren, dass man ganz bestimmt einen 17-Jährigen kennt, der bis in die allerletzte Vorentscheidung des Jahres 1958 zurück, alles kennt. Ja, klar, solche Einzelschicksale gibt es, und sie seien gelobt. Geschichtliches Wissen bis ins letzte Detail muss man loben. Gleichwohl: Allgemein schreibt man einer schwedischen Gruppe zu, dass sich mit ihrer Performance im Jahre 1974 alles änderte. Und das ist nur zu wahr. Nächsten Sonntag vor 40 Jahren, am 6. April 1974, gewannen Agnetha Fältskog, Benny Andersson, Björn Ulvaeus und Anni-Frid Lyngstad - nach den Anfangsbuchstaben ihrer Vornamen kurz Abba - den 19. Eurovision Song Contest im britischen Brighton.
Was aber war, ehe es diese Zäsur gab? Wofür stand der ESC, ehe diese Schweden an der englischen Südküste ihre Schlacht um den europäischen und dann globalen Popmarkt begannen? Weshalb wird beim flüchtig gesinnten Publikum Abba immer zuerst genannt, wenn es um den ESC und seine Legenden geht? Nicht Udo Jürgens, Lys Assia, Lulu, Sandie Shaw oder Cliff Richard? Bis 1974 dachte man bei den meisten ESC-verantwortlichen TV-Stationen, es komme darauf an, nationale Kultur vorzuzeigen und damit möglichst nicht Letzter zu werden. Blamieren wollte sich ja niemand. Ästhetisch war der ESC eine eher konservative, nur gelegentlich zeitgenössische Veranstaltung.
Vor Abba war der ESC antijugendlich
Natürlich waren Chanteusen und Chanteurs wie Udo Jürgens, vor allem Françoise Hardy, Grethe Ingmann, Sandie Shaw, Lulu oder France Gall cool, das heißt nah an den Geschmäckern der Jungen und Jugendlichen. Insgesamt aber muss man sagen: Der ESC war ein Festival zur Bewahrung des erwachsenen, antijugendlichen Geschmacks. 79 Prozent Abendkleider bei den Frauen, 75 Prozent Smoking, Frack und Anzug bei den Männern. Anfang der sechziger Jahren begann von London aus der Siegeszug des Pop - aber beim ESC merkte man davon eher wenig. Aus Deutschland kamen durchweg lustige und kecke Interpreten. Cornelia Froboess war noch die Krönung des Besseren, aber Ulla Wiesner, Heidi Brühloder Nora Nova? Nun ja. Die spielten mit ihren ESC-Beiträgen nicht einmal krümelweise eine Rolle in den Charts. Die modernsten Lieder für die Zeit waren noch1956 Freddy Quinns "So geht das jede Nacht" und Katja Ebsteins "Wunder gibt es immer wieder“ 1970. Alles in allem kümmerten sich die Lieder um Liebe, um Tragisches, um Tiere, das Wetter, das Allgemein-Gute.
1973 ist der ESC noch nicht bereit für Abba
Abba nahmen 1973 zum ersten Mal am schwedischen Vorentscheid teil. Alle vier Mitglieder des später legendären Quartetts hatten schon Einzelkarrieren hinter sich oder steckten mitten in diesen. Am prominentesten Agnetha, aber auch Benny und Björn. Beide Männer begannen ihre Zusammenarbeit Ende der sechziger Jahre - der eine kam aus dem Folk, der andere aus dem Beat. Die am stärksten treibende Kraft hinter Abba war deren Manager Stikkan Anderson - er wollte über Schweden hinaus. Gewöhnlich kam man damals nur mit Hilfe des ESC überhaupt ins Ausland. Pop-Karrieren, die international sein wollten, waren schwierig. Manche kamen nach Deutschland, hatten aber bei uns nur mit Schlagern der Mitklatschsorte Erfolg. Aus Skandinavien kamen Sängerinnen wie Siw Malmkvist, Gitte Haenning, Wencke Myhre. Aber auch sie mussten und wollten den Stoff singen, der gängig war. Und das war in Deutschland kein Jazz, kein Swing, sondern Schlager mit rührseligen oder frech-angehauchten Zutaten. Beim schwedischen Vorentscheid für Luxemburg 1973 setzte sich das Männerduo The Nova bei den Juroren durch - das Publikum protestierte, weil es die nur drittplatzierten Abba bevorzugte. "Ring Ring" - meiner Meinung nach einer der besten Titel der Gruppe überhaupt - gefiel den Juroren aber nicht. Zu gefällig, zu wenig gewichtig, allzu sehr verliebt in Oberflächlichkeit, befanden sie.
Erfolg erst beim zweiten Versuch
Manager Anderson wünschte von der Gruppe einen zweiten Anlauf. Offen war nur, mit welchem Lied. "Hasta Mañana“ war eigentlich der Song, der der Band am ehesten behagte. Er sei erfolgreichen ESC-Liedern am nächsten. Am Ende setzte sich Stikkan Anderson durch. Er riet Abba, volles Risiko zu gehen: Mit "Waterloo" könne man in Brighton untergehen - oder gewinnen. Die Vorentscheidung gewannen Abba deutlich vor Lars Berghagen, Lena Ericsson und Titti Sjöblom und der auch in Deutschland bekannten Sylvia Vrethammar. Die Fahrkarte nach Brighton hatte man also schon mal in der Tasche - der Feldzug jenseits der Landesgrenzen hatte begonnen, um es mal leicht militärisch auszudrücken. Und Stikkan Anderson begann im Hintergrund zu wirken - er hatte bis zum Finale in Brighton genau acht Wochen. Das für ihn Angenehme war: Die europäische Konkurrenz ahnte nicht, welche Macht da aus Schweden anfliegen sollte.
Im nächsten Teil über Abbas Triumphzug beim ESC geht es um den Sieg des Quartetts in Brighton.