Pellander: "Brauchen mehr Mut bei unseren Beiträgen"
"Alles neu" könnte das Motto des deutschen Vorentscheids für den Eurovision Song Contest 2018 in Lissabon heißen. Doch nicht nur die Suche nach dem deutschen Act bekommt einen Neustart. Auch in der Delegation gibt es einen Wechsel. Christoph Pellander löst Carola Conze ab, die 2016 und 2017 an der Spitze der deutschen Delegation stand. Im Interview analysiert Pellander die schlechten Platzierungen der vergangenen Jahre und spricht über die Einbeziehung des europäischen Musikgeschmacks bei der Suche nach Deutschlands ESC-Teilnehmer.
Sie sind Nachfolger von Carola Conze als deutscher ESC-Delegationsleiter. Wie kam es dazu?
Christoph Pellander: Carola Conze, die ja seit vielen Jahren unter anderem hauptverantwortlich für die NDR Talk Show zuständig ist, hat im Sommer entschieden, aus familiären Gründen das ESC-Team zu verlassen, was im Sender sehr bedauert wurde. Carola ist nicht nur eine reizende Kollegin, sie hat sich mit ihrer Erfahrung und vor allem mit ihrer Leidenschaft für Musik und Künstler unermüdlich für den ESC eingebracht. Seit meinem Wechsel 2015 vom WDR in die Filmabteilung des NDR waren wir stets im intensiven Austausch über den Song Contest, unsere Büros sind nicht weit voneinander entfernt - wir bleiben also im Gespräch.
Wie ESC-erfahren sind Sie?
Pellander: Wenn es so etwas wie den "ESC-Virus" gibt, dann bin ich wohl in früher Kindheit damit infiziert worden. Er begleitet mich mein ganzes Leben und mit meiner Anstellung beim NDR erfolgten auch sogleich erste organisatorische Berührungen. Neben meiner Tätigkeit als Redakteur in der Abteilung Film, Familie und Serie habe ich bei den ESC-Kollegen hospitiert, in der Vorbereitung des letzten Vorentscheides mitgewirkt, Levina auf einigen Stationen ihrer Europatour begleitet und die Delegations-Kollegen in Kiew unterstützt. Für mich ist der ESC also nicht nur Business, sondern zu einem großen Teil Leidenschaft. Wer hat schon das Glück, ein Projekt zu betreuen, für das sein Herz seit Kindesalter an schlägt.
In den vergangenen Jahren lief es nicht so gut für Deutschland beim ESC. Was ist für Sie als neuer Delegationsleiter die größte Herausforderung?
Pellander: Sicherlich waren die letzten Resultate enttäuschend. Ich richte den Blick aber nun nach vorn, wir haben viel Zeit in Analysen gesteckt und sind voller Tatendrang, um im kommenden Jahr wieder erfolgreich zu sein. Was den Wettbewerb aber länderübergreifend auszeichnet, ist jenes positive Wir-Gefühl, mit dem man Jahr für Jahr aufs Neue in die ESC-Saison startet. Das gilt für unsere Delegation und mindestens genauso für die Fans draußen, die natürlich zu Recht hoffen, dass beim Vorentscheid der/die perfekte Kandidat/in oder Band präsentiert wird. Diese Hoffnung und dieses Ziel verbindet uns alle. Aktuell ist es natürlich die größte Herausforderung, alles dafür zu tun, dass wir wieder einen stark besetzten und unterhaltsamen Vorentscheid kreieren, der unseren Star für Lissabon präsentiert. Dann beginnt noch in gleicher Nacht die nächste Herausforderung. Wir wollen die Deutschen für unseren Star begeistern und dieses Fieber europaweit streuen. Denn nur, wenn wir hinter unserem Star und seinem Song stehen, werden auch die anderen Länder dieses Fieber aufnehmen und berichten. Gelingt dies, haben wir schon einen kleinen Erfolg erzielt.
Was ist Ihrer Meinung nach in den letzten Jahren schiefgelaufen? Warum haben unsere Kandidatinnen und ihre Songs Europa nicht überzeugt?
Pellander: Ich denke, wir wollten es möglicherweise immer allen recht machen und haben uns oft für Kompromisse entschieden, was letztlich zu eher durchschnittlichen Musik-Beiträgen geführt hat. Wir haben uns in den letzten Monaten intensiv mit der Voting-Arithmetik beim ESC beschäftigt. Von 26 Ländern im Finale erhalten nur 10 Punkte, die anderen 16 gehen leer aus. Durchschnitt kann aber bei 26 Songs à drei Minuten von den TV-Zuschauern nicht wirklich wahrgenommen werden. Und anrufen wird für einen durchschnittlichen Song kaum jemand. Wir brauchen also wieder mehr Mut bei unseren Beiträgen. Besser finden zehn Prozent der TV-Zuschauer unseren Beitrag absolut genial und rufen für unseren Star an, als dass 100 Prozent der Zuschauer unseren Beitrag "ganz nett" finden, aber dafür nicht bereit sind, anzurufen. Die anderen 90 Prozent, die unseren Beitrag vielleicht nicht mögen, können uns ja nicht abstrafen.
Wird es vielleicht Zeit, mal wieder einen männlichen Kandidaten ins Rennen zu schicken? Nach Roman Lob 2012 in Baku mit einem guten achten Platz gab es nur Sängerinnen, die nicht so gut abgeschnitten hatten.
Pellander: Wir wissen, dass das Geschlecht für den Erfolg kein wesentliches Kriterium darstellt. Lena hat 2010 in Oslo gewonnen und insgesamt haben beim ESC häufiger Frauen als Männer gewonnen. Wichtiger ist es, einen tollen Beitrag bestehend aus Künstler/in, Song und Auftritt zu finden. Ich sage an dieser Stelle immer: Das Paket muss stimmen! Wir schicken im Vorfeld Männlein und Weiblein gleichermaßen ins Rennen, unser Europa-Panel wird daraus die 20 besten auswählen, danach bleiben die fünf Finalisten, Finalistinnen oder auch Bands für den Vorentscheid übrig. Und dann werden wir sehen, wer uns in Lissabon vertritt.
Welches Ziel haben Sie für Lissabon 2018?
Pellander: Mir ist wichtig, dass wir Deutschland in Portugal mit einem tollen, würdigen Beitrag repräsentieren, der positiv in Europa, aber auch bei den unzähligen ESC-Fans in Deutschland wahrgenommen wird. Und wenn das dann zu einer deutlich besseren Platzierung als in den letzten Jahren führt, wäre das ein großartiger Einstand.
Das Vorentscheidkonzept beinhaltet viele Neuerungen. Was steckt hinter der Idee, den Vorentscheid internationaler zu machen?
Pellander: Der ESC ist nun mal eine internationale Veranstaltung und eine einmalige dazu. Mehr als 40 Länder messen sich Jahr für Jahr friedlich mit Songs und der europäische Gedanke ist beim ESC lebendiger als kaum irgendwo anders. Allerdings haben wir feststellen müssen, dass nicht alle Europäer unbedingt auf die "Deutsche Küche" stehen. Umgekehrt mögen die deutschen ESC-Fans aber offensichtlich sehr gerne die "Rezepturen" aus anderen Ländern. Deshalb wollen wir im nächsten Jahr eine Rezeptur anbieten, die den deutschen Fans schmeckt, aber auch den anderen europäischen Nationen Freude bereitet.
Können Sie schon etwas zum Ablauf des Vorentscheids verraten? Gibt es nur eine Show oder mehrere?
Pellander: Dazu können wir momentan noch nicht viel sagen, weil verschiedene Produktionsfirmen gerade damit beschäftigt sind, auf Basis unserer Vorgaben Konzepte zu entwickeln. Momentan planen wir aber mit fünf unterschiedlichen Finalisten. Und sowohl die Mitglieder des Europa-Panels, die Fachjuroren als auch die TV-Zuschauer werden in die Entscheidung über unseren Beitrag für Lissabon involviert. Unser Ziel ist in der Vorbereitung für den Vorentscheid, für jene fünf Kandidaten bereits einen Act zu kreieren, der möglichst nah an dem Auftritt in Lissabon sein soll. Outfit, Maske, Choreografie etc. - wir wollen beim Vorentscheid bereits das "Look and Feel" für Lissabon einbinden. Davon versprechen wir uns sehr viel.
Wie viele Bewerbungen haben Sie erreicht?
Pellander: Wir haben insgesamt etwa 4.000 Kandidaten gesichtet, von denen am Ende circa 1.000 ernsthaft infrage kamen. Unter ihnen sind welche, die sich selbst beworben haben sowie zum Beispiel vom NDR selbst vorgeschlagene Künstlerinnen und Künstler. Wir haben zum Teil wirklich großartige, frische und außergewöhnliche Talente und Musiker.
Suchen Sie nur junge, unbekannte Talente oder gibt es auch Überlegungen, etablierte Künstler für den Vorentscheid zu begeistern?
Pellander: Wir sind hier absolut offen. Natürlich konnten sich auch etablierte Künstler bewerben. Wir haben auch aktiv nach geeigneten Beiträgen bei bereits bekannten Musikern gesucht. Nationale oder gar internationale Bekanntheit ist aber absolut kein Garant für ein erfolgreiches Abschneiden beim ESC. Da hat es in der Vergangenheit schon zahlreiche Misserfolge gegeben, denken Sie beispielsweise an DJ Bobo, den die Schweiz im Jahr 2007 in Helsinki ins Rennen geschickt hat. Trotz großer Bekanntheit und Charterfolge konnte er nur Platz 20 im Semifinale erreichen.
Hand aufs Herz: Was ist wichtiger? Der Song oder der/die Kandidat/in?
Pellander: Ich glaube, es ist nicht das eine oder das andere. Wir haben uns in den letzten Monaten unglaublich intensiv mit der Frage auseinandergesetzt, welche Faktoren beim ESC in der Vergangenheit zu guten Platzierungen geführt haben. Auch wenn es banal klingen mag, aber ein wesentliches Ergebnis unserer Analysen, bei denen uns unsere Partner für den ESC 2018 unterstützt haben, war, dass stimmlich anspruchsvolle Songs mit guten Sängern auffallend besser abgeschnitten haben. Letztlich ist es immer der gesamte Auftritt, der bei den Zuschauern und den Fachjuroren in über 40 Ländern innerhalb von nur drei Minuten überzeugen muss. Mit durchschnittlichen Songs kann man beim ESC nicht punkten und das schon gar nicht, wenn man nicht mit Supporter-Punkten von Nachbarländern oder Deutschen im Ausland kalkulieren kann. Unser Beitrag muss deshalb unter allen 26 Beiträgen besonders positiv hervorstechen.
Wenn Sie alleine entscheiden könnten: Wie sieht Ihr "Traumact für Deutschland" aus? Weiblich? Männlich? Mit deutschem Titel oder lieber mit einem englischen?
Pellander: So, dass er den Deutschen beim Vorentscheid und den internationalen ESC-Fans beim Finale so gut gefällt, dass sie dafür voten.
Über die sozialen Netzwerke sollen musikaffine Menschen angesprochen werden. 100 von ihnen gehören dann zum Europa-Panel. Wie genau finden Sie diese Menschen?
Pellander: Das Verfahren haben wir mit unseren Kooperationspartnern ausgetüftelt. Unser Ziel ist es, das Panel mit Menschen zu besetzen, die das "ESC-Gen" in sich tragen und - ohne es vielleicht selber zu wissen - einen Musikgeschmack haben, der dem Voting-Publikum in Europa ähnelt. Das wird in einem mehrstufigen Prozess ermittelt, denn längst nicht jeder ESC-Fan liegt geschmacklich auch auf der Wellenlänge von 100 Millionen Europäern in 40 Ländern. Mit dem Europa-Panel wollen wir einerseits sicherstellen, dass nicht der Geschmack weniger "Insider" oder Redakteure die Richtung der Vorauswahl bestimmt, sondern wir von Beginn an darauf achten, dass unsere Beiträge auch in Lissabon positiv wahrgenommen werden. Und andererseits verstehen wir das Europa-Panel auch als eine Gruppe würdiger Stellvertreter für die vielen ESC-Fans in Deutschland, die bislang ja oft erst im Rahmen des nationalen Vorentscheids mitbestimmen konnten. Erreicht haben wir weit über 100.000 Menschen, beteiligt haben sich bereits 15.000.
Wird das Europa-Panel im Vorentscheid eine gesichtslose Masse bleiben oder werden die Fans erfahren, wer dazugehört?
Pellander: Nein, wir wollen das Panel unbedingt auch in die Show integrieren. Die Art und Weise können wir noch nicht verraten. Die Fans sollen aber unbedingt erfahren, wer sie in dem Vorauswahlprozess vertreten hat.
Zurück zu Ihnen persönlich: Welche ist Ihre erste ESC-Erinnerung?
Pellander: Es mag total abgedroschen klingen, aber es ist die weiße Gitarre (Anm. d. Red.: von Nicole). Ich war vier Jahre alt und die Schallplatte lief bei uns zu Hause rauf und runter. Zu den ersten Erinnerungen gehören "Ne partez pas sans moi" von Céline Dion im typischen 80er Outfit, aber auch die Auftritte von Albano und Romina Power. Absolut nachhaltig in Erinnerung ist Dana International 1998: politisches Statement und Hit zugleich.
Gibt es einen ESC-Song, den Sie immer wieder gerne hören?
Pellander: Es gibt etliche Songs, die mich seit vielen Jahren begleiten, mit denen man natürlich auch besondere Erinnerungen und Emotionen verbindet. Das waren nicht automatisch immer Gewinnersongs. Aber um einmal konkret zu werden: Ein ESC-Song, der seit 2010 nicht von meiner Jogging-Playlist gestrichen wird und zu meinen Favorites gehört, ist "In A Moment Like This" von Chanée & N'evergreen, Platz 4 in Oslo.
Womit beschäftigen Sie sich am liebsten in Ihrer Freizeit?
Pellander: Mein Herz schlägt neben der Musik und dem Fernsehen für Pferde. Ich bin großer Anhänger des Trabrennsports, fahre selbst regelmäßig Rennen und suche mir hier auch den Ausgleich zum Job. Joggen an der Alster, mit Freunden treffen, Unternehmungen oder Reisen am Wochenende, gern auch mit Hund - Langeweile gibt es fast nicht.
Ihre Freunde schätzen Sie besonders für ...
Pellander: Meinen stets vollen Kühlschrank, die gemütliche Couch, vielleicht auch die große Spielesammlung und am Ende hoffentlich auch ein Stück weit für meine Loyalität.
Was bringt Sie ganz schnell auf die Palme?
Pellander: Verkehrschaos und Stau.
Und was wieder runter?
Pellander: Das richtige Lied im Autoradio, ein Plausch am Telefon mit meiner Familie oder im Zweifel Vollmilchschokolade.
Das Interview führte Sabine Leipertz.