ESC-Finale: Selbstbewusstsein schlägt Sexyness
Es gibt tatsächlich einen überlegenen Favoritensieg im Finale des Eurovision Song Contest in Lissabon. Wonder Woman Netta aus Israel hat es allen gezeigt: Mit viel Selbstbewusstsein ausgestattet, trägt die 25-Jährige ihren schrillen K-Popsong "Toy" an der Loopstation vor. "Ich bin nicht dein Spielzeug, du dummer Junge", mit dieser #metoo-Botschaft singt die junge Frau vielen aus der Seele. Das macht sie herrlich humorvoll mit einem Augenzwinkern und ausgeprägter Mimik: Gackernd und gurrend stolziert sie in einem schwarz-rot-pinkfarbenen Kimono und mit Doppeldutt über die Bühne. Mit ihren drei sehr beweglichen Tänzerinnen feiert die Sängerin eine furiose Party inklusive Ententanz. Damit weist die Israelin ihre stärkste Konkurrentin in die Schranken: Eleni Foureira aus Zypern, die Zweite wird und auf Sex-Appeal gesetzt hat. "Ich bin so glücklich. Danke dafür, dass ihr Unterschiede wählt und respektiert", erzählt Netta freudestrahlend nach ihrem Sieg, den sie vor allem den Televotern verdankt. Insgesamt gibt es 529 Punkte für sie.
Michael Schulte macht Deutschland glücklich
Auch für Deutschland ist es ein besonderer Abend. Michael Schulte gelingt ein emotionaler Auftritt: Stark und absolut zugewandt singt der 28-Jährige seinen autobiografischen Song "You Let Me Walk Alone". Der Tod seines Vaters vor 13 Jahren hat eine große Lücke hinterlassen, die noch immer schmerzt. Schlüsselwörter wie "Love", "Hearts", "Children" und "Mother" zum Mitlesen sowie Fotos von Vätern mit ihren Kindern auf einer Projektionswand machen das Erlebnis beim Zuschauen noch intensiver. In der Ballade heißt es: "I'm a dreamer, a make-believer", das Träumen habe Schulte von seinem Vater gelernt. Am Ende des Beitrags geht ein Lächeln über sein Gesicht. Zu Recht, denn an diesem Abend wird ein Traum wahr - für Michael Schulte und für Deutschland. Er landet auf einem hervorragenden vierten Platz. Das ist das beste Ergebnis seit Lenas Sieg 2010 in Oslo. Und er hat nicht nur die Jurys, sondern auch die Televoter überzeugt.
Österreich und Italien überraschen
Noch einen Tick besser schneidet unser Nachbarland Österreich ab. Lange sieht es so aus, als ob sogar der Sieg für Cesár Sampson möglich ist. In einem Bühnenbild, das wie ein Raumschiff anmutet, scheint der Sänger die unendlichen Weiten des ESC-Kosmos zu erobern. "Beam mich hoch" - der 35-Jährige und sein fantastischer Chor singen sich mit der Soulnummer zu "Nobody But You" bei den Jurys auf Platz eins, nach dem Addieren der Punkte der Zuschauer bleibt schließlich Rang drei. Hinter Österreich und Deutschland reiht sich Italien ein. Ermal Meta und Fabrizio Moro punkten mit "Non mi avete fatto niente" weniger bei der Jury. Dank Zuschauer-Stimmen katapultiert sich das Duo von Platz 17 noch auf fünf. Und beweist damit, dass die ESC-Community durchaus auch ein Ohr für sozialkritische Songs hat, die keine große Bühneninszenierung brauchen, aber eine starke Botschaft und zwei gute Stimmen. Die Italiener wollen sich von Krieg und Terror nicht beeindrucken lassen. Und das präsentieren sie sehr leidenschaftlich und glaubhaft.
Wikinger-Walk für Frieden
In den Top Ten landet außerdem die Tschechische Republik mit Mikolas Josef, der mit einem mitreißenden Rap inklusive Salto Sechster wird. Benjamin Ingrosso ertanzt mit Platz sieben für Schweden ein respektables Ergebnis, mehr auch nicht. Perfekt singt die Estin Elina Nechayeva "La forza" mit ihrer lupenreinen Opernstimme, doch für ESC-Ohren scheint das Stück vermutlich etwas zu elitär. Sie landet auf Rang acht. Dahinter reiht sich Dänemarks Wikinger Rasmussen ein, der zu Frieden aufruft: "Come Europe, walk with us". Ein schönes Signal in schwierigen Zeiten. Platz zehn geht an die DoReDoS aus Moldau, die ein launiges Doppelgänger-Verwirrspiel performen, wenn auch etwas altbacken.
Stagediving von AWS als ESC-Final-Premiere
Von nachdenklich über vielfältig bis spektakulär ist das Finale in der Altice Arena in Lissabon, in der die Künstler ohne Videowände auskommen müssen. Dafür ist es ein Abend großer Gesten: Hand aufs Herzen legen, Fäuste ballen, Hände in den Himmel strecken oder die Arme ausbreiten wie die Jesus-Statue von Rio de Janeiro. Erstmals sehen wir Stagediving in einem Finale durch die Ungarn von AWS auf der ESC-Bühne. Und es ist jede Menge Pyrotechnik im Einsatz. Bei Mélovin aus der Ukraine schlagen Flammen eine Treppe hoch, sodass man um die Gesundheit des 21-Jährigen fürchten muss. Auch musikalisch ist für jeden Geschmack etwas dabei: Pop, Rap, Country, Chanson, Opernarie, Metal, Soul und New Wave.
Salvador Sobral ist Sieger der Herzen
Außer Netta gibt es schließlich noch einen Gewinner an diesem Abend: Es ist Salvador Sobral. Der Sieger aus dem vergangenen Jahr steht nach einer Herz-Transplantation erstmals wieder auf der Bühne. Noch vor wenigen Wochen war ein Auftritt undenkbar, vor Begeisterung macht er kleine Freudensprünge, mehr scheint noch nicht zu gehen. Das geht so zu Herzen, dass selbst starke Kerle zu Tränen gerührt sind. Bei seinem Siegersong "Amar pelos dois" begleitet ihn Caetano Veloso, eine brasilianische Musiklegende. Sobral sieht nach seiner schweren Krankheit erholt aus, und das Publikum ist begeistert vom Comeback. Für einen kurzen Augenblick macht er die Auftritte der anderen 26 Teilnehmer vergessen.