Il Volo sind die wahren Lieblinge des Publikums
Der Mathematiker und Blogger Holger Dambeck hat sich alle Zahlen vom ESC 2015 durchgesehen, er hat alles notiert und neu ausgerechnet - Dank an ihn. Er bloggt selbst unter dem Motto "Dreiecke, Primzahlen und Fahrräder". Und, oh, unangenehme Überraschung: Nicht Måns Zelmerlöw aus Schweden hätte den 60. ESC gewonnen, sondern die drei italienischen Sänger von Il Volo mit ihrem Titel "Grande Amore" - zumindest dann, wenn es nur nach dem Televoting gegangen wäre. Das ist insofern eine besondere Nachricht, als die Jurys deshalb wieder in das ESC-Abstimmungsverfahren mit aufgenommen wurden, um Blockwertungen zu verhindern. Dass etwa die skandinavischen, ex-sowjetischen oder ex-jugoslawischen Länder sich nicht besonders bevorzugen.
Seit 2009 gibt es das Verfahren, nach dem ein ESC-Ergebnis sich aus einem 50/50-Mix zusammensetzt. Die eine Hälfte des Resultats steuert eine fünfköpfige Expertenjury bei, die andere Hälfte die Zuschauer in den jeweiligen Ländern. Bislang, seit dem ESC in Moskau, liefen die getrennt notierten Ergebnisse auf immer das gleiche Resultat hinaus. Lena hatte bei den Jurys wie bei den Televotern gewonnen, auch Loreen, Alexander Rybak oder Conchita Wurst. Dieses Jahr ist es erstmals so, dass die Jurys einen Kandidaten hoch bewerteten, das Publikum einen anderen.
Experten ignorierten Populäres
Die deutsche Jury beispielsweise, das ist aus den offiziellen Zahlen ersichtlich, wertete Il Volo auf den 15. Platz, das französische Wertungsgericht auf den 18. Rang. In beiden Ländern landeten die Italiener indes an der Spitze der Publikumsbeliebtheit. Alles in allem: Aus reinen Televotingergebnissen gerechnet hätte Italien, so Dambeck, mit 356 Punkten vorne gelegen, die Russin wäre auch beim "Volk" die Zweite gewesen, der Schwede deutlich nur Dritter. Mit anderen Worten: Nur durch die Experten - je fünf Menschen aus der Musikindustrie, Künstler, Produzenten, alle professionell mit Popmusik beschäftigt - konnte "Heroes" gewinnen. Das offenkundig populärere "Grande Amore" wäre ohne die Fachexperten das Siegeslied geworden.
Am Publikumsgeschmack vorbeigewertet
Bedauerlich ist es, dass die Experten eine Rolle spielten, die sie am Geschmack des Publikums vorbeiwerten ließ. Ihre Macht war 1996 weitgehend abgeschafft worden, weil Juroren Titel zu Siegern machten (1983, 1992, 1996, also Corinne Hermès, Linda Martin und Eimear Quinn), die nicht zu Charterfolgen wurden, sondern lediglich dubiosen Kunstansprüchen genügten. Das Publikum sollte im demokratischen Europa entscheiden, keine Expertokratie mehr sollte im Dunkeln herrschen.
Gleichwohl: Nichts gegen Juroren-Kompetenz im Einzelnen, aber ihre Funktion bestand und besteht nur darin, den Faktor der Nachbarschaftswertungen gering zu halten. Dass also nicht Griechenland automatisch zwölf Zähler an Zypern und dieses zwölf an Griechenland vergibt. Oder Norwegen seine skandinavischen Nachbarn prima bedient und diese Norwegen.
"Grande Amore" hat Hitpotenzial
Nicht jedoch waren die Jurys wieder zum Leben erweckt worden, um die Hitpotenziale von Liedern abzuschwächen. Dass "Grande Amore" eine Art Sommerhit Europas werden könnte, liegt auf der Hand - dass der "Heroes" singende Schwede ein Darling der Musikindustrie sein würde, auch. Es ist schade, dass das Expertentum wieder so einen Rang bekommen hat, das echte Publikumslieblinge nicht zur Geltung kommen lässt. Jede Wette: "Heroes" wird kein echter Hit, "Grande Amore" hingegen ein starker. Es könnte Zeit für die European Broadcasting Union sein, das System der Jurymacht wenigstens auf ein Viertel einzugrenzen.
P.S.: Ann Sophie schnitt bei den Jurys besser ab als beim Publikum. So oder so: Ihr "Black Smoke" hinterließ wenig Eindruck.