Feddersens Kommentar: Wer gewinnt den ESC?
Die Geschichte des ESC kennt viele knappe Entscheidungen, und zwar einerlei, nach welchem Modus die Punkte vergeben wurden. Vor 48 Jahren beim ESC in Madrid gewannen gleich vier Künstler: Lenny Kuhr aus den Niederlanden, Frida Boccara aus Frankreich, Salomé aus Spanien sowie Lulu aus Großbritannien. Knapp ging es auch 1988 in Dublin zu, als Céline Dion nur hauchdünn vor ihrem britischen Konkurrenten Scott Fitzgerald lag. Wobei man sagen muss: In den spannendsten Jahren waren die jeweils an der Entscheidung beteiligten Lieder mit ihren Interpreten und Interpretinnen nicht besonders stark favorisiert.
In manchen Jahren war es nur ab Platz zwei überraschend
Aber, und das erleben wir dieses Jahr wieder, es hat auch immer Entscheidungen gegeben, bei denen die jeweiligen Favoriten allen anderen turmhoch überlegen waren - vorher und am Ende der Auszählungen der Punkte. 1967 in Wien bekam Sandie Shaw für Großbritannien mehr als doppelt so viele Punkte wie der zweitplatzierte Ire Sean Dunphy; 1964 in Kopenhagen sammelte Gigliola Cinquetti mit ihrem "Non ho l'étà (per amarti)" fast dreimal so viele Punkte wie der Zweite, Matt Monro aus Großbritannien. Nicole stand 1982 in Harrogate mit ihrem "Ein bisschen Frieden" lange vor der letzten Wertung als Siegerin fest.
Und diese eindeutigen Sieger waren auch im Vorfeld von Experten und in Zeitungen sowie Radiosendungen zu unschlagbaren Favoriten erklärt worden. Anders war es allerdings bei Udo Jürgens: Zwar war er 1966 in Luxemburg der klare Sieger mit beinahe doppelt so vielen Punkten wie die Zweitplatzierten Lill Lindfors & Svante Thuresson aus Schweden. Zuvor hatte ihn jedoch niemand so recht auf dem Favoriten-Zettel.
In letzter Zeit hatten drei Künstler einen Durchmarsch
In jüngerer Zeit waren es vor allem drei Acts, die, als ihre Teilnahme bekannt wurde, allen anderen zu signalisieren schienen: "Kümmert euch um alles vom zweiten bis zum letzten Rang, denn ich werde gewinnen." Alexander Rybak sammelte 2009 in Moskau 78,79 Prozent aller möglichen Punkte; 75,6 Prozent aller theoretisch möglichen Zähler holte Loreen 2012 in Baku; und Måns Zelmerlöw war 2015 in Wien nicht minder ein Triumphator sondergleichen - er konnte 78 Prozent aller Punkte auf sich vereinen. Diesen dreien waren auch Siege prophezeit worden, die Wettbüros meldeten schlechte Quoten, wenn da einer auf diese Geld setzte: Das gab nur wenig mehr als den Einsatz heraus. Zum Vergleich: Jamalas Sieg fiel 2016 in Stockholm ungleich knapper aus, sie erhielt lediglich 54,3 Prozent der potenziellen Stimmen - obendrein war sie weder beim Televoting noch bei den Jurys auf dem ersten Platz.
2017: Italien wird's
Dieses Jahr, so prognostiziere ich das, ist wieder ein Erdrutschsieg zu erwarten. Er liegt bei den Wettbüros unangefochten auf dem ersten Platz, und zwar, seit er nominiert wurde: Italiens Francesco Gabbani mit "Occidental's Karma". Dieses Lied hat alles, was für einen Sieger spricht. Man erkennt es auf Anhieb wieder; es ist flott, ohne am eigenen Tempo zu ersticken. Man glaubt, es schon gehört zu haben, man will es sofort wieder hören, man findet es total und superkrass nervig nach fünfmaligem Aufruf in der Playlist, aber dann ist dieses Ohrwurmhafte gerade das Attraktive, so dass man es nochmals hören will: Gabbani - on heavy rotation.
Portugal - wird es diesmal was?
Der Mann, der dieses Lied singt, hat eine ausgesprochen lebendige Körpersprache, er weiß am Mikrofon zu "verführen". Mich würde es mehr wundern, wenn er nicht gewönne, als dass mich sein Sieg überraschte. Ich gehe davon aus, dass er alle in Kiew in Grund und Boden charmieren wird - sowohl die Jurys als auch die Televoter. Italien wird, mit anderen Worten, das dritte Mal nach Gigliola Cinquetti 1964 und Toto Cutugno 1990 siegen. Es wäre, nebenbei, schön, wäre der ESC des Jahres 2018 in einem südeuropäischen Land.
Einen einzigen Haken hat die Sache, und der heißt Salvador Sobral. Wird er in Kiew sein "Amar pelos dois" mit genau der gleichen irren Körpersprache wie bei der portugiesischen Vorentscheidung auf die Bühne bringen - er hätte die Chance, dem Italiener nahezukommen. So wie 2014 in Kopenhagen The Common Linnets aus den Niederlanden der Österreicherin Conchita Wurst. Portugal würde sich sehr freuen, bislang ist der sechste Platz von 1996 in Oslo durch Lúcia Moniz das beste ESC-Resultat. Kurz: Francesco Gabbani wird es, wer denn sonst?