Die ESC-Globalisierung
Die Meldung ist so bizarr wie spektakulär: Der Eurovision Song Contest erweitert sich mit der 60. Ausgabe in Wien um ein Mitglied - und nicht einmal ein europäisches. Oder eines, das direkt Mitglied der European Broadcasting Union ist wie viele arabische Mittelmeerländer. Nein, Australien liegt von Europa so fern wie nichts sonst auf der Welt. Aber: Der öffentlich-rechtliche Rundfunk in Australien überträgt den ESC seit den frühen 70er-Jahren - wenn auch stets zeitversetzt. Interesse hat Down Under am Eurovision Song Contest schon, seitdem Australiens glamourösester Popexport, Olivia Newton-John, für das Vereinigte Königreich mit "Long Live Love" 1974 teilnahm. Australien ist keine schlechte Idee als ESC-Familienmitglied. Wobei: Die European Broadcasting Union (EBU) erklärt eindeutig, es sei eine "einmalige" Sache, die mit dem 60. ESC zu tun hat, also mit dem Geburtstag des Events.
Australien - ein Nest von Weltstars
Eine Fülle von bekannten Popstars stammt aus Down Under: in alten Zeiten die legendäre Band The Seekers (eher Folk-orientiert), die Bee Gees, die mindestens mit Titeln wie "I've Gotta Get A Message To You" oder "To Love Somebody" dem französischen ESC-Pomp der 60er-Jahre entschieden entgegengetreten wären. Auch Acts wie John Farnham, Men At Work, INXS, auch AC/DC und natürlich die Göttin der Dancefloors, Kylie Minogue, die im Übrigen mit "I Should Be So Lucky" jeden Song Contest der vergangenen zwei Jahrzehnte haushoch gewonnen hätte.
Das ist eine eindrucksvolle Liste an entsprechenden Referenzen, um beim ESC Glaubwürdigkeit zu gewinnen. Denn die moralische Grundierung des Landes ist ja eher fragwürdig: eine gigantische Sträflingsinsel - Strauchdiebe, Schläger, Raubeine beiderlei Geschlechts. Ein Stück weit zeigt der ergreifende Spielfilm "Muriels Hochzeit" aus den mittleren 90ern von dieser rauen Tradition: Man kann es dort schwer haben.
Aber, auch das lehrt uns dieser Film: Mit Musik von Abba geht fast jeder Aufbruch in ein besseres Leben gut. Wer wüsste das besser als ein ESC-Fan? "Dancing Queen", "Waterloo" oder "Thank You For The Music" gelten in Australien immer noch als anbetungswürdige Hits. Man könnte sagen: Australien ist uns kulturell näher als alle Länder, die zum nachsowjetischen Einflussbereich zählen. Obwohl ich nicht verhehle, dass ich kulturelle Differenz, etwa auch zu Ländern wie Aserbaidschan und Portugal, Mazedonien oder Zypern, sehr schätze.
Britischer Block stärker
Sehr britisch fundiert ist das Teilnehmerland - mit Australien wird der urenglische Sprachblock (Großbritannien und Nordirland, Irland und in gewisser Weise auch Malta) Verstärkung erhalten. Man hat zwischen Perth und Sydney Vorstellungen vom ESC, die eher ins Schrille und Farbenfrohe verweisen: Den ESC hält man dort mehr für exzentrisch als popseriös. Hier möge als Beleg ein Ausschnitt vom ESC 2013 in Malmö genügen, bei dem die australische Anhänglichkeit an dieses Festival dokumentiert ist.
Aber wie dem auch sei: Ich finde prima, dass die EBU nun ihre eigenen Horizonte überschreitet - und sich in gewisser Weise auf Globalisierungskurs schickt. Mit Australien geht es um andere Dimensionen.
Viele offene Fragen
Allerdings bleiben Fragen offen. Wer mitmacht und gewinnt, muss das Ding im Folgejahr ausrichten. Wie soll das gehen, wenn Australien zur klassischen ESC-Uhrzeit (21 Uhr in Mitteleuropa) zwischen neun und elf Stunden voraus ist? Wenn der ESC ausgestrahlt wird, ist es Down Under auf jeden Fall am frühen Morgen. Digame, die verantwortliche Firma für das Televoting, wird ermöglichen, dass die australischen Zuschauer mit abstimmen können. Das australische Fernsehen - ein öffentlich-rechtliches Netz, das beim ESC drei Millionen Leute erreicht - überträgt bisher allerdings nicht live, sondern zeitversetzt erst am Abend später. Sollen die australischen Zuschauer auf das Internet angewiesen sein, wenn sie abstimmen wollen? Das ist technisch ja gut möglich, aber ohne echte Liveübertragung ginge es nicht.
Andererseits: Wer abstimmen will, müsste eben - in Melbourne, Canberra, Hobart oder Darwin - früh am Sonntag (oder Mittwoch und Freitag, während der Semis) aufstehen. Als die Olympischen Spiele 2000 in Sydney abgehalten wurden, mussten Olympiainteressierte sich ja auch auf die dortigen Zeitmuster einstellen. Jedenfalls: Die Mitteilung besagt, dass das australische Publikum in beiden Semis wie im Finale mitstimmen kann. Das ist ungewöhnlich, aber erklärt wird das wohl so: Australien als spezieller Geburtstagsgast kann man nicht einerseits einladen - und dann andererseits zum Finale wieder hinausgeworfen haben. Und: Dass Australien gleich im Finale gesetzt ist, dass also aus den "Big Five" die "Big Six" werden, leuchtet auch ein. Denn sonst hätte es einem anderen Land aus den Semis vielleicht einen Finalplatz weg genomnmen. 27 Länder werden demnach nun im Grand Final performen.
Ich bin mir ziemlich sicher, dass alle offenen Fragen geklärt werden können. Auch, ob Australien wirklich eine einmalige ESC-Sache bleiben wird. Die Nachricht an sich ist unkompliziert und gut: Australien wird dabei sein!