Der allerletzte Song
Russlands Sender RTR, dieses Jahr zuständig für den ESC, hat sich beinahe über Gebühr Zeit gelassen, um seinen Act für Kopenhagen zu benennen. Eigentlich sollte eine öffentliche Vorentscheidung stattfinden, so lautete die Ankündigung im Herbst 2013. Offenbar jedoch hat man, wegen des opulenten technischen und finanziellen Aufwands für die Olympischen Winterspiele in Sotschi, dieses Projekt wieder fallengelassen. Nun erfolgte eine interne Benennung. The Tolmachevy Twins vertreten ihr Land mit "Shine".
Es muss unter Absehung aller Qualitätsstandards geschehen sein! Wahrscheinlich hat man in allerletzter Minute auf eine Notlösung namens Philipe Kirkorov zurückgegriffen. Der angetraute Mann von Ala Pugatschowa ging 1995 in Dublin für Russland ohne Erfolg an den Start: Kirkorov landete unter ferner sangen. Immerhin: Sein Titel "Kolybelnaya dlya vulkana" (etwa: Schlaflied für einen Vulkan) wird unter Fans als dramatischst interpretierter ESC-Act aller Zeiten gehandelt. Das war eine krass überzuckerte, auf alle Fälle überhitzte Darstellung eines Vulkans - und das mit aufgetufften Haaren und in Glitter und Flitter, wie es selbst professionelle Damenimitatoren in Höchstform nicht hinkriegen.
Griff in die "Lolita"-Schublade
Dieser Kirkorov jedenfalls hat in die "Lolita"-Schublade gegriffen - so muss es gewesen sein! - und hat mit dem griechischen Freund und Kollegen Dimitris Kontopoulos für die Tolmachevy-Zwillinge ein Lied geschrieben. Aber das ist nicht das Thema - warum sollen sie nicht ein schönes Liedlein kreieren? Ich will gestehen: Voriges Jahr hatte ich mir fest vorgenommen, die russische Chanteuse Dina Garipova nicht gut zu finden. Mir gingen die russischen Acts immer ein wenig auf die Nerven: Meist, wie 2008 der ESC-Gewinner Dima Bilan produziert mit nichtrussischer Hilfe - und durch viel russisches Geld - kamen sie mir immer so fern vor, wie keine anderen der spezifischen Landeskultur. Diese Omas vor zwei Jahren in Baku: Schön und gut - aber der ESC ist doch kein Kirchenförderungswettbewerb.
"Shine": grauenhaft, einfältig, hingeschludert
Aber: Die Garipova ist inzwischen jene mit dem mir zweitliebsten Lied des vorigen Jahrgangs. "What If" ist eine beinah perfekte Ballade, eine Schnulze sondergleich und toll (weil kühl und ohne Getänzel) interpretiert. Aber diese Zwillinge, einst tätig beim Junior Eurovision Song Contest, trällern in diesem Clip, versehen mit einem untertitelten Text, selig vor sich hin und her. "Shine" ist für mich definitiv das grauenhafteste Lied dieses ESC. Hingeschludert, einfältig, blöde, gaga und doof. Das ist, was zeitgenössische Popkunst angeht, das Gegenteil von den coolen Beats, die 2013 bei Margaret Berger aus Norwegen zum Vorschein kamen. Und das ist, typisch Kirkorov, Kirmesmusik von schrummeligster Sorte.
Kein Sprung ins Finale?
In Russland werden sie sagen, wenn es nicht zum Finale reicht, dass der Westen und die Dekadenz und die Schwulen und sonst was daran Schuld tragen. Aber das wäre nur Verschwörungstheorie (wie so vieles in russischen TV-Sendern momentan zur Ukraine). Wahr ist vor allem dies: Philipp Kirkorov hat noch nie einen einzigen pfiffigen, interessanten, originellen und zu Herzen gehenden Titel geschrieben. Dieses Jahr wird es wieder bestätigt.