Stand: 12.05.2018 02:43 Uhr

Wie aus Michael Schulte ein Mit-Favorit wurde

Michael Schultes Weg zum ESC-Finale in Lissabon am Samstagabend war lang. Er ist 28 Jahre alt und in jeder Hinsicht in puncto Eurovision Song Contest kundig. Er kann lupenrein Dänisch, beherrscht die Originalversion des Olsen-Brothers-Klassikers "Smuk som et stjerneskud" perfekt - und singt mit "You Let Me Walk Alone" eines der favorisierten Lieder. Er liegt bei den internationalen Buchmachern nicht mehr so weit hinten, wie vor einer Woche. Er ist kein Hinterbänkler mehr. Sondern unter den Top Ten in Lauerstellung. Was ist los, wie konnte dies geschehen? Die Geschichte einer persönlichen Prüfung.

 

Gänsehautlied - aber aus Deutschland?

Acht Tage vor dem Finale, Michael Schulte probt erstmals in der Altice Arena von Lissabon. Er singt sein "You Let Me Walk Alone" drei Mal. In der Halle sind keine Medienleute, sie hören im Pressezentrum zu. Dort, wo immer mehr oder weniger lärmend gearbeitet wird, kehrt Stille ein. Am Ende erntet der 28-jährige Deutsche Applaus. Von "Gänsehautlied" ist unter Kollegen zu hören, "toll" und "zum Weinen schön" wird kommentiert. Und dann sagt einer einen trostlosen Satz: "Wenn es nicht Deutschland wäre, für das er singt, würde ich denken, na klar, der wird mindestens Zehnter. Wenn nicht besser." Und ein anderer Experte meint: "Ich trau mich nicht, Deutschland besser als auf den 25. Platz zu sehen, war doch sonst immer so."

Wie alles begann - in Köln

Der Sänger und Songwriter Michael Schulte lehnt mit dem Kopf auf einem Gitarrenkasten.  Foto: Sven Sindt
Michael Schulte hatte schon beim Workshop in Köln das gesuchte, gewisse Etwas.

Im Dezember war er in Köln beim Workshop der möglichen deutschen ESC-Kandidaten. Michael Schulte war am ersten der fünf Tage dabei - und wirkte schon in diesen grauen Wochen wach, aufmerksam und verträumt zugleich. Wolfgang Dalheimer, Heavytones-Chef einst bei Stefan Raab und jetzt Berater und Mentor der deutschen ESC-Bewerber, hatte Schweigepflicht, durfte auch nichts über ihn, den Mann aus Buxtehude, sagen. Aber er dann am Mikro stand und ein Lied anstimmte, erkannte man auf dem Gesicht des Musikprofis Respekt und Staunen: Da war offenbar einer, der das Zeug hat, einen ESC nicht nur als günstige Gelegenheit zu nehmen, sondern als Chance auf das ganze große Ding.

Denn Michael Schulte war ja schon wer. Einer, der unabhängig von der Plattenindustrie, von ihren Einflüsterungen und oft schlechten Ratschlägen, sich selbst die Terminbücher führt und auf YouTube schon ein Star ist. Michael Schulte ist beglaubigt durch millionenfache Klicks. Er singt gern Coverversionen, denn das, so sagt er, bringe mehr Aufmerksamkeit als die selbst komponierten Lieder.

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Der Sänger Michael Schulte in Siegerpose. © dpa-Bildfunk Foto: Jörg Carstensen, dpa

Mit nordischer Gelassenheit nach Lissabon

Mit norddeutscher Gelassenheit gewinnt Michael Schulte den ESC-Vorentscheid "Unser Lied für Lissabon". Hüttengaudi und Rockballade lässt der 27-Jährige aus Buxtehude hinter sich. mehr

Unabhängig von der Musikindustrie

Dann kam die nächste Runde, der nächste Schritt - Ende Januar das Song Writing Camp in Berlin. Und niemand ahnte, dass der damals 27-Jährige schon wusste, im Sommer Vater zu werden, und dass dies seine eurovisionären Textfantasien beflügeln würde. In der ehemaligen Fabriketage an der Gneisenaustraße saß er, wie auch die anderen Vorentscheidungskünstler, mit Textern und Komponisten, um vielleicht ein Lied für Lissabon zu basteln. Uns sagte er an diesem Nachmittag auf die Frage, ob es eine eigene Komposition werden würde: "Das auf jeden Fall!" Michael Schulte - der Mann, der sein Werk im künstlerischen Griff hat, weil er nicht nur Interpret sein will, sondern auch Erfinder eines Liedes, seines Acts.

Der 22. Februar in den Berliner TV-Studios sah ihn, den Favoriten der Vorentscheidung, seltsam nervös. Das waren seine Rivalen auch, aber Michael Schulte, der so fein mit seiner Stimme Atmosphäre schaffen kann, wirkte angespannt. Selbst als er mit "You Let Me Walk Alone" gewonnen hatte, als er seinen Titel unter buntem Konfetti nochmals sang, schien eine gewisse Anspannung zu bleiben.

Wenig Aufmerksamkeit - in den Proben immer besser

Dabei hatte er gewonnen - jetzt würde nur noch die Kür folgen. Mit einem Wort: Lissabon. Die erste deutsche ESC-Siegerin Nicole sagte uns einmal: "In Harrogate zu gewinnen, damals, 1982, war viel leichter als die deutsche Vorentscheidung. Das ist die Hürde, vor der man als Künstler Angst hat. International zu singen war einfacher."

Für Michael Schulte hörte freilich die Zeit der Prüfungen nicht auf. Die Radiowellen spielen sein Lied kaum, er wird sozusagen zum Objekt des üblichen Zynismus der die Radiomusik auswählenden Redakteure: Man traut dem ESC nichts zu, man will nur Chartmusik. Cool nimmt Schulte das wohl hin. Auch dass die Medien über ihn und über den ESC in der ersten Zeit nach dem Vorentscheid wenig schreiben. Irgendwie kein Wunder: War ja nicht so fett die letzten Jahre aus deutscher Sicht.

Ein Screenshot der Seite eurovisionworld.com. Netta Barzilai aus Israel steht auf Platz 1 der Wettquoten.
Die Wetten Anfang April sahen den Beitrag Deutschlands nicht einmal unter den ersten Acht.

Doch er studiert, was über ihn geschrieben wird. Er guckt sich die aktuellen Stände der internationalen Buchmacher an. Und realisiert, dass er selbst von den Fanclubs kaum beachtet wird. Und er sieht, dass er vom anfänglichen Platz neun gar auf Platz 22 in den Wettbüros fällt. In Lissabon wird er von Tag zu Tag, von Probe zu Probe besser. Im eher kargen Bühnenbild, konzipiert von Florian Wieder, Ladislaus Kiraly und Falk Rosenthal, fühlt er sich wohl. Doch mit Partys, mit langen Nächten, hält er sich zurück. Er geht mit seiner Freundin lieber mal in die Stadt, ohne Tross von Aufpassern.

Er will die Kontrolle behalten und tut gut daran

Michael Schulte auf dem roten Teppich in Lissabon. © NDR Foto: Rolf Klatt
Auf dem Roten Teppich in Lissabon beantwortet Michael Schulte geduldig die Fragen der Journalisten.

Ein normaler junger Mann, der beharrt, auch in Lissabon privat sein zu können. Was keine Missachtung professioneller Pflichten bedeutet: Sympathisches Auftreten am roten Teppich, Stadtrundfahrt mit Medienleuten - und Michael Schulte macht alles mit, lehnt keinen Fotowunsch ab, erlaubt auch mit ihm zusammen ein Selfie und sagt danach "Danke". Kein Missmut bei ihm, kein Zeichen von Stress.

Es ist die Zeit seines Lebens, er muss dies wissen und handelt cool. Er liebt den ESC, er kann Salvador Sobrals Siegeslied "Amar pelos dois" anderthalb Strophen in schönem Portugiesisch singen und zeigt dies selbst beim Empfang der deutschen Botschaft: Michael Schulte, das fällt auf, unterscheidet sich von so gut wie allen deutschen ESC-Kandidaten der vergangenen vielen Jahre, weil er nicht an Gefallsucht leidet, nicht an überdrehter Gutgelauntheit, die ja immer ein Zeichen für Überforderung ist.

Er hat ein autobiografisches Lied geschrieben, es ist keine Geschichte, die er erfindet. Sie gibt es wirklich: ein Vater, um den er trauert, weil er ihn nach dessen Tod vermisste und immer noch vermisst - besonders jetzt, da er selbst bald Vater wird.

Perfekte Auftritte im Semi- und Juryfinale

Seit Mittwoch steigt er in den Wetten der Buchmacher, von Platz 16 macht er zunächst einen Sprung auf Platz neun. Dann: acht, sieben, sechs, fünf, vier, wieder fünf und sechs. Resultat seines ersten TV-Einsatzes, im zweiten Semifinale. Charmant und schlagfertig spielt er auf der Ukulele "Fly On The Wings Of Love". Brausender Applaus in der Halle!

VIDEO: Kurzauftritt von Michael Schulte im zweiten Halbfinale (2 Min)

Und allmählich beginnt sich im Pressebereich etwas zu ändern. Ein holländischer TV-Kollege sagt: "Immer wenn ich ein deutsches Lied summe und ich es auf der Rechnung habe, schneidet es gut ab. Zuletzt vor acht Jahren." Und ergänzt: "Bei Lena."

Michael Schulte auf der Bühne. © NDR Foto: Rolf Klatt
Im Juryfinale geht es für Michael Schulte zum ersten Mal beim ESC um sehr viel. Er legt einen großartigen Auftritt hin.

Freitagabend, Juryfinale, Michael Schulte singt als Elfter, er ist gesanglich so gut drauf wie nie, er phrasiert seine Stimme, er lächelt erleichtert, als selbstkritischer Perfektionist weiß er, dass er gut performt hat. Und sagt, als sei eine weitere Last von ihm abgefallen: "Thank you". Wird er am Samstagabend das Momentum haben, über sich hinauszuwachsen, frei sein, ja, seinem Vater auf diese Weise danken?

Die Frage stellt sich jetzt wirklich: Wird es Michael Schulte sein, der das beste deutsche ESC-Ergebnis seit Lena erreicht?

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Eurovision Song Contest | 12.05.2018 | 21:00 Uhr

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