Mit nordischer Gelassenheit nach Lissabon
Es ist kurz vor 22 Uhr, als Michael Schulte zum ersten Mal an diesem Abend den Eindruck macht, etwas nervös zu sein. Kein Wunder: In diesem Moment zeichnet sich ab, dass es für ihn auf den ersten Platz beim ESC-Vorentscheid "Unser Lied für Lissabon" herauslaufen dürfte. Da muss selbst der entspannte Typ aus Buxtehude einmal tief durchatmen. Und dann stellt Elton, der zusammen mit Linda Zervakis die Show moderiert, die alles entscheidende Frage: "Möchtest du ...?" - ja, Michael will. Damit steht fest: Der 27-Jährige wird Deutschland im Mai beim Eurovision Song Contest in Portugal vertreten.
Ein Lied über den verstorbenen Vater
So nordisch unterkühlt der rotgelockte Sänger auch erst mal wirkt, er trägt an diesem Abend den emotionalsten aller sechs Vorentscheid-Songs vor. Das Lied "You Let Me Walk Alone" - an dem er mitgeschrieben hat - widmet er seinem Vater, der vor 13 Jahren gestorben ist. Der gebürtige Schleswig-Holsteiner singt davon, dass er schon so weit gekommen sei, diesen Weg aber ohne seinen Vater gehen müsse. Währenddessen sind auf einer Leinwand hinter ihm Fotos von Vätern mit ihren Kindern zu sehen. Da dürfte selbst der abgeklärteste Zuschauer mit erhöhter Tränenproduktion zu kämpfen haben.
Von Volksmusik bis Rockballade
Sowohl die 20-köpfige internationale Experten-Jury als auch das 100-köpfige Eurovisions-Panel und die Zuschauer geben dem Kandidaten dafür die Höchstpunktzahl - jeweils zwölf Punkte für Michael. Die anderen fünf Kandidaten steckt Michael Schulte an diesem Abend relativ locker in die Tasche seiner verwaschenen Röhrenjeans. Dabei ist noch nicht einmal ein Totalausfall dabei. Alle Vorentscheid-Teilnehmer sind gute Sänger und alle sind sie vollkommen unterschiedlich - von moderner Volksmusik bis Rockballade ist bei "Unser Lied für Lissabon" alles vertreten.
Englisch-französischer Bayer wird Zweiter
Punktemäßig kommt Xavier Darcy am dichtesten an den Erstplatzierten heran - dabei dürfte er vor der Show der unbekannteste aller Kandidaten gewesen sein. In seinem Rocksong "Jonah" singt er davon, dass man böse Geister vertreiben muss, um einen neuen Anfang zu finden. Der 22-Jährige ist ein echtes Original: Er ist Bayer mit Wurzeln in England und Frankreich, geboren ist Darcy in Schottland. Er wirkt nicht professionell kontrolliert, sondern auf schräge Art erfrischend. Doch es reicht für den Mann mit der Gitarre und den schulterlangen Haaren nur für den zweiten Platz.
Glücksschuhe und eine Ballerina
Eines wird deutlich in diesem ESC-Jahr: Die Song-Contest-Fans scheinen 2018 unbedingt auf einen Mann setzen zu wollen. Denn auch auf dem dritten Platz landet ein männlicher Kandidat - Ryk mit der Rockballade "You And I". Der Hannoveraner hat extra die Glücksschuhe seines Opas geschnürt, bekommt für seinen Gesang Zwischenapplaus und lässt sich auch von der direkt vor seiner Nase tanzenden Ballerina nicht ablenken, während er am Flügel sitzt und von innerer Zerrissenheit singt. Für das Ticket nach Lissabon reicht es trotzdem nicht.
Keine Hüttengaudi in Lissabon
Im Gegensatz zu der eher klassischen Nummer am Klavier geht es bei Ivy Quainoo heißer zu. Bei ihrem Song "House On Fire" lodern Feuer auf der Bühne. Die Stimme der ersten "The Voice of Germany"-Gewinnerin ist stark, doch der Titel scheint ihr nicht ganz gerecht zu werden. Am Ende springt der Funke nicht über. Und auch die Alpenrocker von voXXclub dürften über ihren vorletzten Platz etwas enttäuscht sein, wurden sie doch als Mitfavorit gehandelt. Mit ihrem "I mog Di so" - dem einzigen deutschen Song beim Vorentscheid - sorgen die fünf A-cappella-Sänger für ordentlich Stimmung im Studio. Auf Volksfesten oder Skihütten wird das bestimmt ein Hit - auf der ESC-Bühne in Lissabon werden die Buam in Lederhosen aber nicht stehen.
Rote Laterne für Natia Todua
Und auch Natia Todua wird sich den Ausgang des Abends anders vorgestellt haben. Vor wenigen Wochen hat die Georgierin "The Voice of Germany" gewonnen und wurde nun auch bei "Unser Lied für Lissabon" im Vorfeld von vielen vorne gesehen. Mit "My Own Way" bekommt die 21-Jährige diesmal allerdings die rote Laterne. Michael Schulte kann sich dagegen im Konfetti-Regen feiern lassen. Und den Weg nach Lissabon, den muss er garantiert nicht alleine gehen.