Genres beim ESC: Was ist Schlager?
Alle Jahre wieder - kommt nicht nur die Weihnachtszeit, sondern auch der Ruf nach Helene Fischer, die Deutschland beim bevorstehenden Eurovision Song Contest aus dem Tal der Tränen führen möge. Doch während sich die einen nach der Schlager-Göttin verzehren, packt die anderen beim bloßen Gedanken das kalte Grausen: Kein anderes Musikgenre polarisiert das Publikum so sehr wie Schlager. Dabei bezeichnet der Begriff aus der Kaufmannssprache ursprünglich nur einen Artikel, der besonders großen Anklang findet. In der Musik fand er erstmals 1867 Verwendung - für den Donauwalzer von Johann Strauss.
Ein Kind der Operette
Musikalisch entwickelte sich der Schlager zunächst aus der Operette, deren eingängige Melodien - oft mit neuen, frechen Texten - von den Menschen auf der Straße nachgesungen wurden. Die Erfindung des Grammophons, vor allem aber der Beginn des Rundfunkbetriebs nach dem Ersten Weltkrieg, sorgten für eine rasend schnelle Verbreitung der vornehmlich auf Unterhaltung ausgelegten Musik, die sich durch Einflüsse aus dem Jazz von ihren Operettenvorbildern emanzipierte. Ein umfangreiches musikalisches Vorspiel war zunächst typisch für den Schlager, damit man dazu ordentlich das Tanzbein schwingen konnte. Die Länge von drei bis vier Minuten war der Spieldauer der Grammophonplatten geschuldet.
Europaweiter Siegeszug
Schon 1925 bildete die Schallplattenindustrie den viertwichtigsten Industriezweig in Deutschland. Exportiert wurden vor allem Aufnahmen klassischer Musik, aber auch deutsche Schlager, die sich in vielen Ländern Europas von Skandinavien über die Niederlande und Belgien bis hin zum Balkan großer Beliebtheit erfreuten und auch die lokale Musikproduktion beeinflussten. Bis heute ist "Schlager" in Schweden beziehungsweise "šlager" in den Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawiens ein fester Begriff - auch wenn die musikalischen Erzeugnisse, die darunter gefasst werden, sich in vielerlei Hinsicht von den Schlagern deutschen Ursprungs unterscheiden.
Missbrauch und Niedergang
Mit dem Aufkommen des Tonfilms in den 1930er-Jahren wurden Schauspieler wie Johannes Heesters oder Zarah Leander zu Schlagerstars. Die Möglichkeit, über ihre Musik viele Menschen zu erreichen, wurde im Dritten Reich allerdings für Propagandazwecke missbraucht. Daher ging der stilbildende Einfluss des Schlagers in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg deutlich zurück, auch wenn einzelnen Titeln wie "Zwei kleine Italiener" der internationale Durchbruch gelang. Stattdessen gaben angelsächsische Titel vermehrt den Ton an - wobei in Deutschland bis in die 1960er-Jahre fast jede Form von populärer Unterhaltungsmusik als Schlager bezeichnet wurde und ausländische Hits bevorzugt mit deutschen Texten die Charts eroberten.
"Deutscher" Schlager
Mit dem Siegeszug der Beatles brach der Verkauf deutschsprachiger Unterhaltungsmusik massiv ein: Deutsch galt als die Sprache der (uncoolen) Eltern, und wer mit der Zeit gehen wollte, hörte Englisch. Jetzt schlug die Stunde der Popmusik, denn nicht alle konnten sich mit den rockigen Klängen anfreunden, die den Sound zur Aufbruchstimmung der Studentenbewegung lieferten. Und so ist das Comeback des "deutschen Schlagers" in den 1970ern eigentlich ein Siegeszug der Popmusik - schließlich sind viele Schlager-Evergreens von "Ein Bett im Kornfeld" bis zu "Tränen lügen nicht" deutschsprachige Coverversionen ausländischer Pophits. Im Gegenzug mischten deutsche Pop-Produktionen wie Boney M oder Silver Convention im internationalen Musikbusiness ganz vorne mit. ESC-Evergreens wie "Feuer" oder "Dschinghis Khan", die heute als Schlager gelten, waren zu ihrer Zeit eigentlich deutsche Disco-Musik.
Ideologische Kämpfe
Bis heute haftet der Unterscheidung zwischen (deutschsprachigem) Schlager und (englischsprachiger) Rock- und Popmusik etwas Ideologisches an: Rock gilt als engagiert und authentisch, Schlager als kommerziell und verlogen. Vor allem seichte, sentimentale Texte werden ihm häufig zum Vorwurf gemacht, doch die Kriterien hierfür sind schwammig. Sicher ist, dass viele deutsche ESC-Beiträge der 1980er-Jahre - von "Johnny Blue" über "Rücksicht" bis "Aufrecht geh'n" - sich textlich nicht hinter den meisten Popsongs aus dieser Zeit verstecken müssen. Man denke nur an die frühen Erfolge von Kylie Minogue. Und Modern Talking gelten bis heute nicht als Schlager, auch wenn die Texte - nun ja …
Gesprengte Genregrenzen
Zum Synonym für unaufwendig produzierte Lieder im Mitklatsch-Rhythmus wurde der Schlager erst im Zuge der Radioformatierung in den 1980er-Jahren. Wer als deutschsprachiger Sänger erfolgreich sein wollte, musste sich in die jeweilige Schublade einordnen lassen können: Deutschrock für die (progressiven) "jungen Wellen", Schlager für die (konservativen) älteren Semester. Spätestens mit Guildo Horn wurde diese Aufteilung allerdings völlig auf den Kopf gestellt. Und mittlerweile gibt es viele junge Bands und Sänger, die sich mit ihren deutschsprachigen Songs gar nicht mehr um Genregrenzen scheren. Ob das Schlager ist oder nicht, hängt davon ab, auf welcher Seite man steht - denn Schlager hören immer nur die anderen …