Genres beim ESC: Ist das wirklich Jazz?
"Mit dem Sieg Salvador Sobrals beim Eurovision Song Contest 2017 hat nicht nur ein portugiesischer Beitrag zum ersten Mal den Wettbewerb gewonnen, sondern auch ein Titel aus dem Jazz-Pop-Genre." So eröffnet eurovision.tv eine neue Reihe über Musikgenres beim ESC. Was als gut gemeinter Leitfaden gedacht ist, sorgt schon in der ersten Folge zum Thema Jazz für musikalische Verwirrung, denn bei vielen der vorgestellten Musikstücke handelt es sich gar nicht um Jazz, wie die Stimme aus dem Off auch immer wieder einräumt, sondern um Beiträge von Künstlern, die schwerpunktmäßig Jazz singen. Auch Titel, die gemeinhin den Kategorien Soul, Swing und Blues zugeordnet werden, finden Erwähnung: Max Mutzkes "Can't Wait Until Tonight", Roger Ciceros "Frauen regier'n die Welt" oder Magdi Rúzsas "Unsubstantial Blues". Ist das wirklich alles Jazz?
Genre-Begriffe im Wandel
Tatsächlich ist die Zuordnung von Musik zu einem bestimmten Genre eine ziemliche Herausforderung. Das liegt daran, dass Begriffe wie Jazz, Rock oder Schlager nicht klar definiert sind. "Das Genre ist eine der unschärfsten Kategorien zur Unterteilung von Musik, weil es nicht an konkret messbare musikalische Eigenschaften geknüpft ist", erklärt der Musikpsychologe Professor Reinhard Kopiez von der Hochschule für Musik, Theater und Medien in Hannover. Bei der Bestimmung eines Genres spielen nämlich auch außermusikalische Faktoren eine Rolle, zum Beispiel die Kleidung: Schlaghosen, Plateauschuhe und Schminke gehören zum Glamrock wie Dirndl und Lederhosen zum (alpenländischen) volkstümlichen Schlager. Aber auch gesellschaftliche Entwicklungen beeinflussen die Wahrnehmung einzelner Genres. So kommt es, dass Genrebegriffe mit der Zeit ihre Bedeutung verändern.
Jazz als Genre-Bezeichnung erst seit 1915 belegt
Was ein Genre ausmacht, wird von den Personen definiert, die sich mit der entsprechenden Musik beschäftigen. Das sind neben den Musikern selbst vor allem Musikjournalisten, die Begriffe benötigen, um über Musik schreiben zu können. Entsprechend ist der Begriff "Jazz" wesentlich jünger als die ersten Erscheinungsformen dieser Musik, die später darunter zusammengefasst wurden. Als Genrebezeichnung ist er erst seit 1915 belegt. Und während sich die wichtigsten Strömungen der nordamerikanischen Unterhaltungsmusik (darunter auch Jazz und Soul) aus dem Blues entwickelt haben, wurde der Swing mit seinem charakteristische Bigband-Sound in den 30er-Jahren zur wohl populärsten Spielart des Jazz. Deswegen klingen die Orchesterarrangements vieler ESC-Beiträge aus den 60er-Jahren mit ihren Blechbläsern für uns jazzig, obwohl sie mit Jazz nicht viel zu tun haben.
Jazz beim ESC? Unmöglich!
Tatsächlich kann man Jazz beim ESC mit der Lupe suchen - und heutzutage ist er schlichtweg unmöglich geworden. Das hat einen ganz einfachen Grund: Eine der wesentlichen Eigenschaften von Jazzmusik ist die Improvisation, und seit es den Musikern nicht mehr gestattet ist, ihre Instrumente live zu spielen, fällt dieses entscheidende Merkmal flach. Allerdings bedienen sich einzelne Musikstücke bestimmter Stilmittel des Jazz und seiner vielfältigen Erscheinungsformen.
Ein Beispiel ist Schwedens Beitrag von 1960: Siw Malmkvist mit "Alla andra får varann". Swingender Rhythmus, Jazzharmonik und AABA-Songform sind klassische Merkmale des Bigband-Jazz der 1960er-Jahre. Das Orchester improvisiert ausgedehnt, bevor Malmkvist in der Bridge wieder einsteigt und den Song mit stimmlich leicht variiertem A-Part abschließt. Von diesem Beitrag gibt es nicht einmal eine Schallplattenaufnahme - mehr Jazz geht nicht beim Eurovision Song Contest. 1961 in Cannes geht für die Niederlande Greetje Kauffeld mit "Wat een dag" an den Start. Nach einem längeren Intro finden wir auch hier den typischen Swing-Rhythmus, die Jazzharmonik und die Melodie in AABA-Songform, die in einer verkürzten Orchestervariation wieder aufgegriffen wird.
Der jazzigste ESC-Beitrag überhaupt
Das 1973 von Norwegens Bendik Singers vorgetragenen "It’s just a game" hat einen kleinen Schönheitsfehler: Vor lauter Harmoniegesang bleibt kein Improvisationsspielraum für die vier Musiker, die live fast genauso perfekt klingen wie auf Schallplatte. Dennoch einer der wenigen ESC-Beiträge, die mehr sind als nur jazzig arrangiert. Und dann bleibt da nochder Auftritt von Raphael Gualazzis "Madness of Love" beim Song Contest 2011. Die Improvisationen der Musiker kommen zwar vom Band, werden jedoch auf der Bühne authentisch umgesetzt - und Gualazzi nutzt den gesanglichen Spielraum, den das Stück ihm schenkt. Das kommt echtem Jazz verdammt nahe, auch rhythmisch, harmonisch und melodisch. Na gut, wollen wir mal nicht so streng sein: Das ist wohl der jazzigste ESC-Beitrag des 21. Jahrhunderts. Bisher zumindest.
Der aktuelle ESC-Siegersong "Amar pelos dois" orientiert sich am brasilianischen Bossa Nova und seinem oft flüsternden Gesang. Und Salvador Sobrals Gesangsimprovisationen während der Proben lassen keinen Zweifel daran, dass der Portugiese den Jazz im Blut hat.