Italien oder Portugal: Wer überzeugt die ESC-Fans?
In Kiew geht es um eine Richtungsentscheidung, künstlerisch ohnehin, aber auch um eine, die den ESC selbst betrifft. Das war auch 1974 so: Abba, eine Popband sondergleichen, bedeuteten allen Frack- und Abendroben-Damen und -Herren auf der Bühne, dass sie das Feld des ESC nicht mehr unangefochten haben. Mouth & MacNeal zeigten im selben Jahr, dass die Kultur der fröhlichen 1968er auch zur Eurovision gehören kann. So auch 1998, als Dana International siegte und dem glamourösen Disco-Bereich die Tür öffnete.
Italien und Portugal: Zwei konträre Konzepte
Dieses Jahr geht es fast um mehr. Es stehen sich mit den Acts von Italien und Portugal zwei konträre Konzepte gegenüber - auch wenn alle Beteiligten heftig bestreiten würden, dass man beim ESC gegeneinander antritt. Denn es kommt ja darauf an, für etwas zu werben, nicht gegen etwas. Beide sind sympathisch, der eine nicht weniger als der andere. Es gibt nicht die Gegenüberstellung von "nett" oder "doof", "böse" oder "gut". Sie verdienen beide den Triumph in der Nacht auf Sonntag mehr als alle anderen. Aber sie repräsentieren Unterschiedliches fundamentaler Art: Auf der einen Seite der Italiener Francesco Gabbani, der anderen der Portugiese Salvador Sobral.
Hier der Italiener, der Sieger des San-Remo-Festivals, das Vorbild des ESC in den frühen Fünfzigern. Ein Lied wie ein Meisterstück. "Occidentali's Karma" ist eine Perle des Radio-Pop, Lebenslust springt aus jeder Note, ein Gassenhauer, ein Lied, das einschlägt, mithin ein Schlager. Selten wurde ein San-Remo-Gewinner öfter gespielt als dieses Jahr. Das Lied ist ein selbstironisch getextetes Monument der Produktion von Populärem heutiger Zeit schlechthin. Dass man in Deutschland diesem Frohsinn skeptisch gegenübersteht, sagt mehr über die dauernörgelnden Deutschen als über die lebenspragmatischen Italiener.
Das italienische Lied ist genau das, was die ESC-Funktionäre seit vielen Jahren wollen: Die Eurovision als Bühne des Pop, nicht für eine Nische - aufwendig und perfekt produziert, eine Maschine für die Chartzulieferung. Loreen und Måns Zelmerlöw boten beispielsweise solche Acts. Man könnte sagen: Francesco Gabbani steht für das Konzept der ESC-Industrie - und das auch, wenn er nicht wie die durch Skandinavier produzierten ESC-Beiträge so vieler Länder klingt. "Occidentali's Karma" ist ästhetisch gar besser und angenehmer: warm und mitreißend.
Perfektion gegen die Anmutung von Brüchigkeit
Ganz anders der portugiesische Beitrag. Salvador Sobrals Schwester Luisa - vertraut mit den Klängen ihrer Heimat, aber weltläufig und international orientiert - wurde vom portugiesischen TV-Sender gefragt, ob sie etwas zum Vorentscheid beisteuern könne. Sie, die den ESC nicht näher kannte, sagte zu - und komponierte und textete ein Lied namens "Amar pelos dois". Das Lied gewann das Festival da Canção nicht einmal überwältigend.
Es ist anders als alle anderen ESC-Acts. Denn Salvador mit seinen ungekämmten Haaren und den weit aufgerissenen Augen, die jeder glatten Inszenierung Gott sei Dank Hohn sprechen, interpretierte das Lied, als sei es ein intimes Bekenntnis, das er wenigen - und eben nicht Millionen - schüchtern, aber entschieden vorträgt. Kein Pyro, keine fetten Dekorationen auf der Bühne, weder Bodennebel noch regnende Sternkaskaden von der Decke: Dieser Act ist von ergreifender Schlichtheit, und das muss einem Komponisten erst mal einfallen. Wie Bertolt Brecht einmal formulierte: "Das Einfache, das schwer zu machen ist."
Hier also der Perfekte, der Smarte, der Überwältigende - dort der Scheue, der Vorsichtige, der Liedorientierte. Das sind zwei Entertainmentfantasien, die eine auf den Mainstream gerichtet, die andere aber könnte viele Komponisten und Texter in den ESC-Ländern ermutigen, es mal mit Musik und Text zu probieren, um daraus dann die Bühnenfassung zu stricken. Nicht umgekehrt!
Beide hätten den Sieg verdient, aber der Portugiese, das wäre die Zäsur für den ESC in dieser hochtechnisierten Zeit schlechthin. Viel Glück beiden!