"Es gibt kaum noch Anlass, süffisant zu werden"
Seit 1997 kommentieren Sie als NDR Radiomann im Fernsehen für die ARD. Wie haben Sie den Job begriffen im ersten Jahr?
Urban: Als Reporter, ich wollte sagen, was da stattfindet. 1998 habe ich das schon mit mehr Ironie, mehr Selbstvertrauen zum eigenen Blick begleitet. Aber ich habe schnell gelernt, dass der Unterschied zwischen leiser, ja lockerer Ironie und bösem Kommentar gewichtig ist. Man sollte nicht unbedingt für nichts einen Kalauer landen. Zu meinem Schrecken musste ich neulich feststellen, dass ich 1997 kein festes Manuskript hatte - ich kommentierte frei und hatte nur ein paar Notizen ins Programmheft vorher eingetragen. Das würde ich heute nicht mehr machen. In 30, 40 Sekunden zwischen den Liedern - da muss man auf dem Punkt sein, da ist kein Spielraum für Improvisiertes.
Haben Sie inzwischen ein verlässliches Gespür für das, was beim ESC Mist ist und eine wirklich beeindruckende Popnummer?
Urban: Ja, das kann ich sehr gut feststellen. Auch dass es früher, obwohl es weniger Teilnehmer waren, viel mehr Lustiges und Bizarres gab. Acts, die einfach nicht gut waren und zu ironischen Bemerkungen geradezu einluden. Jetzt ist es moderner geworden, passender, stylischer, professioneller, gekonnter. Eigentlich ist das schade für mich als Kommentator. Die Länder sind durchweg international orientiert inzwischen, der Standard ist hoch. Es wird besser gesungen, was auch mit der Technik zu tun haben mag: Mit dem Knopf im Ohr der Sänger und Sängerinnen, dem In-Ear-Monitoring, singt es sich besser.
Würden Sie mir zustimmen, dass 1998 Dana International diesen Trend zum qualitativ Besseren mit befördert hat, dass ihr Lied gewonnen hat, weil es eine moderne Popnummer war? Und gilt das nicht auch für Conchita Wurst aus diesem Jahr?
Urban: Das sehe ich auch so, ja. Dass Conchita Wurst gewonnen hat, lag nämlich nicht daran, sie eine Drag Queen war, sondern dass sie eine ernsthafte, sehr intensive, leidenschaftliche Performance abgeliefert hat, die außerdem wunderbar inszeniert war. Es lag wohl nicht unbedingt am Song selbst, der ist ja nicht so stark, was auch die Charts belegt haben und das Radio-Airplay. Es passte einfach alles. Der Stil, die James-Bond-Melodie, die Farben. Der Bart und die Drag-Queen-Attitüde spielten nur eine Nebenrolle.
Manche sagen, es sei ein politisches Statement gewesen.
Urban: Ich glaube nicht, dass es unbedingt ein politisches Zeichen von Europa war. Im Sinne von: Wir sind der tolerante Kontinent. Das war nur ein Nebenschauplatz, der etliche Stimmen gebracht haben mag, aber entscheidend waren diese Stimmen nicht. Stärker noch beeindruckt haben mich die Zweitplatzierten. Die niederländischen Common Linnets mit ihrem wunderbaren Popsong. Dass die so hoch steigen würden, wäre vor zehn Jahren noch undenkbar gewesen. Als Kommentator fasziniert einen diese Entwicklung sehr, denn es gibt nicht mehr so viel Stoff, der zur Süffisanz einlädt. Außerdem wird ja schon in beiden Halbfinals die Spreu vom Weizen getrennt. Der ESC hat sich stark entwickelt.
Zählt am Ende beim ESC nicht hauptsächlich die Live-Performance?
Urban: Das ist eindeutig so. Es wird kein Plastikprodukt gewinnen, niemals. Wer live nicht überzeugend auf den Punkt ist, hat keine Chance. Vielleicht mit der Ausnahme von Marie N und ihren Kleiderwechseln 2002 in Tallinn, aber sonst gewinnt nur, wer live am Überzeugendsten ist. Das war bei Loreen so, wie bei Lena und bei den allermeisten anderen Siegern.
Peter Urban, könnten Sie uns zwei, drei Lieder nennen, die nach Ihrem Urteil die besseren Sieger gewesen wären?
Urban: Oh, das ist schwer. Mir fällt immer wieder "I Treni di Tozeur" von Alice und Franco Battiato aus dem Jahre 1984 ein. Das ist nach wie vor ein grandioses Lied. Oder 2004 Željko Joksimovic mit "Lane Moje". Dieses Jahr hätten die Holländer gewinnen sollen. In Malmö war nichts so richtig überzeugend außer der dänischen Siegerin, Loreen stand über allem in Baku, in Düsseldorf hat das aserbaidschanische Lied als Sieger des großen Durchschnitts gesiegt, ich hätte den Italiener Raphael Gualazzi vorgezogen.
Kommt es nicht letztlich allen Ländern darauf an, nicht zu gewinnen, sondern sich bloß nicht zu blamieren?
Urban: Ja, das ist das heimliche Ziel. Der Gewinn ist unwahrscheinlich, allein schon, weil so viele teilnehmen mit guten Liedern. Aber für die Halbfinalisten ist es überhaupt wichtig, ins Finale zu gelangen. Dann sind die Investitionen erst gerechtfertigt. Und bloß nicht Letzter werden, das wäre die Vollblamage. Und am Ende weiß man, schon ein Platz unter den ersten zehn ist ein großer Erfolg.
Freuen Sie sich schon auf Wien?
Urban: Ja, das wird lustig - und hoffentlich sind viele Länder dabei.
Das Interview führte Jan Feddersen.
- Teil 1: "Wir sind keine Sprechautomaten"
- Teil 2: "Lockere Ironie und böser Kommentar sind nicht dasselbe"