Wenn der ESC Politik macht
Brisante Austragungsorte
Für den Kommentatoren Paul Jordan ist der ESC 2012 politisch besonders brisant gewesen: Aserbaidschan habe in diesem Jahr im Rampenlicht stehen wollen, dabei aber nicht bedacht, dass hierbei auch diverse Menschenrechtsverletzungen ins Licht rücken, die nicht an die Öffentlichkeit gelangen sollten. Und auch an die angespannt-agressive Lage in Moskau 2009 erinnert er sich: "Dort wurden immer wieder Lieder für mehr Demokratie angestimmt, Treffen und Märsche organisiert, die sehr kritisch beäugt wurden. Das war äußerst unangenehm."
Doch nicht nur Journalisten und Fans vor Ort bekamen eine feindselige Atmosphäre zu spüren. 2014 wurden die russischen Tolmachevy Sisters - aus Protest am politischen Kurs der Regierung Putin - lautstark in Kopenhagen 2014 ausgebuht. Doch Journalistin Cathrin Kahlweit meint, wenn "wir davon ausgehen wollen, dass der ESC auch politisch ist oder sein kann, dürfen wir nicht vergessen, dass sich dies manchmal positiv, aber auch negativ auswirken kann." Man könne nicht erwarten, dass sich Conchitas Auftritt auf Homophobie auswirkt, aber Menschen, die Russlands Politik ablehnen, ihrer Wut keinen Ausdruck verliehen.
Eurovision und die Welt
Im Laufe der Jahrzehnte hat sich der Eurovision Song Contest aber auch sehr gewandelt: Handelte es sich zu Beginn noch um einen reinen Singer-Songwriter-Wettbewerb, entwickelte er sich zu einem immer größeren Musikspektakel, an dem fortwährend mehr Länder teilnahmen. Allein nach dem Fall der Berliner Mauer habe sich die Zuschauerzahl des ESC, laut der Wissenschaftlerin Karen Fricker aus Kanada, nahezu verdoppelt - was freilich auch daran liegt, dass der Grand Prix Eurovision inzwischen bis nach China übertragen wird.
Mittlerweile schauen sich rund 200 Millionen Menschen weltweit das ESC-Finale an. Darunter auch viele Menschen aus Israel. Für den in Berlin beheimateten Journalisten Eldad Beck ist der ESC eine wunderbare Veranstaltung für multinationale Menschen. Dennoch komme jedes Jahr wieder die Frage auf, warum Israel am ESC teilnehme. Dass viele Menschen in Israel europäischer Herkunft sind und Europa sie dabei haben möchte, werde oft außer Acht gelassen. Als Israeli und Österreicher habe Beck daher in den letzten Jahren innerlich sehr gerungen. Es gäbe eindeutig ein Block-Voting und da Israel die teilnehmenden Nachbarn fehlen, sei dies ein großer Nachteil.
Sogar die Teilnahme des Landes habe auf der Kippe gestanden: "Im vergangenen Jahr, als die Isreaelin Mei Feingold es nicht mal ins Finale schaffte, sagte mein israelisches Ich: genug! Ich habe diese Situation satt, wir machen hier nicht mehr mit", erinnert sich der Journalist im Gespräch. "Dann aber hat mein österreichisches Ich mitbekommen, dass es Conchita ins Finale schafft und ich erlebte meinen schönsten Moment, als sie von Israel 12 Punkte bekam."
Dabei sei Israel auch in vielerlei Hinsicht ein ESC-Vorreiter gewesen: So gewannen sie beispielsweise 1978 als erstes nichteuropäischen Länder den Wettbewerb mit einem nichteuropäischen Song. Oder siegten als bisher einziges Land mit einer transsexuellen Künstlerin.
Neue Teilnehmer und europäische Identität
Doch auch andere nichteuropäische Länder versuchen bereits seit Jahren Teil der großen ESC-Familie zu werden. So, wie beispielsweise der Kosovo. Noch immer ist der völkerrechtliche Status des Landes umstritten, die Teilnahmebedingungen am ESC schwierig. Der Botschafter des Kosovo in Österreich, Sami Ukelli, kann das Reglement nur schwer nachvollziehen: "Wir würden sehr gern am ESC teilnehmen, einfach nur als Musiker, ohne politischen Kontext. Wenn das Reglement sogar für Australien gelockert wird, ist schwer zu verstehen, warum das auch nicht für den Kosovo gelten kann."
Auch sie fühlten sich als Teil Europas. Als Teil einer politischen, gesellschaftlichen Identität, die nur schwer festzumachen ist. Ivan Raykoff, Professor an The New School in New York benennt sechs Dinge, die die Europäische Identität bestimmen: "Sie ist multikulturell, demokratisch, kapitalistisch, sexuell liberal und technologisch fortgeschritten." Als Teil der estnischen Diaspora in Amerika half ihm auch der ESC seine europäische Identität zu ergründen.
Building Bridges
Dem diesjährigen Motto "Building Bridges" steht Marco Schreuder dennoch skeptisch gegenüber: "Brücken zu bauen ist eine nette Sache aber am Ende des Tages muss diese auch überquert werden. Wenn du eine Brücke baust und diese dann nicht nutzt, macht das keinen Sinn." Mit derInklusion von Down- oder Williams-Syndrom-Menschen sei aber ein großer Schritt in die richtige Richtung gemacht worden.
Zum Schluss liefert Norwegens ESC-Grand Dame Åse Kleveland allen Journalisten, Wissenschaftlern und Politikern einen letzten Denkanstoß: "Wenn die Zuschauer merken, dass der Wettbewerb zu politisch oder gar missbraucht wird, werden sie nicht mehr einschalten. Somit reguliert sich der politische Einfluss auf das Ganze also auch von selbst".
- Teil 1: Wissenschaft meets ESC
- Teil 2: ESC und die Welt