Jan Feddersen: Mann mit Meinung
April 1967, der kleine Jan sitzt mit seinen Eltern im verrauchten Wohnzimmer und starrt auf den Schwarz-Weiß-Bildschirm. Künstler aus ganz Europa tragen in einer festlichen Show nie gehörte Lieder vor. Die Übertragung des Grand Prix de la Chanson aus der pompösen Wiener Hofburg in die gute Stube in Hamburg ist die Initialzündung für Jan Feddersens Begeisterung für den Eurovision Song Contest: "Ich fand das toll. Das Europäische, das Vielsprachige. Radio und Fernsehen, das war für mich ein Kanal in die Welt. Ich wollte immer in die Welt raus." Vor seinen Augen gewinnt die Britin Sandie Shaw mit "Puppet On A String". Seither ist der größte europäische Musikwettstreit für Jan Feddersen ein jährliches Muss und der Journalist heute so etwas wie die graue Eminenz unter den Song-Contest-Experten - kein Wunder nach einer 50 Jahre währenden ESC-Liaison.
Nur ein einziges Mal boykottiert der Hamburger den Wettbewerb. Ausgerechnet 1974 bleibt der Fernseher aus und der Jugendliche verpasst eine Sternstunde: den glamouröser Sieg von Abba mit dem Titel "Waterloo", der den Beginn einer gigantischen Karriere markiert. "Da war ich fast 17 und dachte, das ist uncool das zu gucken. Das habe ich aber bereut", so Feddersen.
Ernsthafte Auseinandersetzung mit dem ESC
In den 80er-Jahren studiert Jan Feddersen Soziologie, schließt als Sozialwirt ab und macht ein Volontariat bei der linken Tageszeitung "taz" in der Hamburger Lokalredaktion. 1989, mittlerweile freier Journalist, schreibt er seinen ersten Artikel über den Eurovision Song Contest für die "taz", ohne sich ironisch davon zu distanzieren, wie viele seiner Kollegen. "Ich habe gedacht, ich guck mir das jetzt mal ernsthaft an, wie so ein Feld. Man sagt ja auch zu keinem Fußballreporter: Fahr doch mal zur WM, aber mach es nur ironisch und witzig. Ich war der erste seriöse Journalist, der zu dem Thema gearbeitet hat in der Bundesrepublik." Seit 1992 berichtet er direkt vom Austragungsort. Der Norddeutsche schreibt für verschiedene Zeitungen und recherchiert für sein erstes Buch über den ESC, das 2000 herauskommt. Zwei Jahre später folgt "Ein Lied kann eine Brücke sein", das zum Standardwerk avanciert und als ESC-Bibel gehandelt wird. Acht Jahre drauf erscheint sein drittes Buch zum Thema.
Streitbare Kommentare auf eurovision.de
Seit 2005 bloggt der Spezialist für den NDR auf eurovision.de. Und das mit einer beachtlich hohen Frequenz. Feddersen kommentiert nahezu alle Neuigkeiten aus der Welt des Gesangswettbewerbs und generiert viele Themen auch selbst. In seinen Kommentaren verfolgt er den Werdegang der Kandidaten, beobachtet die politische Entwicklung in den Teilnehmerländern und sucht nach Bedeutung und Zusammenhängen. "Ich denke immer an den ESC. Außer drei Tage danach, da ist man erst mal ziemlich abgelöscht." Seine Ausführungen sind reich an fantasievollen Formulierungen und ausgesprochen meinungsfreudig. Neben jeder Menge Zustimmung rufen sie auch Widerspruch hervor. Für Feddersen ein Zeichen des Erfolgs, denn mit dem Blog will er zum Gespräch auffordern. Andere Meinungen interessieren ihn, vor allem, wenn sie gut durchdacht sind. "Dass man sich um diese kostbare Perle eines europäischen Zusammenlebens auch gedanklich ins Zeug legt, das ist mir wichtig." Für Kommentare unter der Gürtellinie hat er allerdings kein Verständnis. "Beleidigungen finde ich nicht gut, das kränkt mich auch, das geht mir nahe."
Ärger mit Kollegen und Politikern
Doch wenn es um eine ernsthafte Diskussionskultur geht, ist der streitbare Journalist nicht zimperlich. 2012 schlägt seine gemäßigte Einschätzung der Situation von Schwulen im Austragungsland Aserbaidschan Wellen bis in die höchsten Kreise der Politik. Besonders die Wortschöpfung "Menschenrechtist" erregt die Gemüter von Journalisten, Aktivisten und dem Menschenrechtsbeauftragten der Bundesregierung. Feddersen sieht es gelassen und steht bis heute zu seinen Äußerungen: "Ich finde meine Beiträge heute noch gültiger und legitimer, als ich sie damals schon empfunden habe. Ich hab nichts zurückzunehmen."
Journalist aus Leidenschaft
Jan Feddersen beschäftigt sich schon immer auch mit ESC-fernen Themen. Seit 1996 ist er bei der "taz" in Berlin fest angestellt und seit 2009 dort zuständig für besondere Aufgaben. So betreut er zum Beispiel Sonderaktionen und Sonderseiten bei außergewöhnlichen Ereignissen wie Olympischen Spielen, Fußball-Weltmeisterschaften und Bundestagswahlen. "Ich bin hier in der glücklichen Lage, unentwegt Kür laufen zu können. Hier kommt der Wille zur Aufklärung zusammen mit so etwas, das man journalistische Leidenschaft nennen kann. Ich bin wirklich mit ausgesprochener Leidenschaft Journalist." Sein Interesse am Eurovision Song Contest gilt vielen Mitarbeitern der alternativ-geprägten Zeitung als exotisch. "Es gibt ganz viele Kollegen, die den ESC hassen. Es laufen hier wahnsinnig viele Geschmackspolizisten rum." Seiner ESC-Begeisterung kann das nichts anhaben, denn wer mit seiner Meinung generell nicht hinter dem Berg hält, ist Gegenwind gewöhnt. "Ich bin stolz darauf, dass ich mich nicht habe entmutigen lassen, dass das ein seriöses, journalistisch-politisches Feld ist."
Abba besser als Beatles
Auch wenn der ESC immer in Feddersens Kopf ist, aus den Lautsprechern seiner Musikgeräte klingen auch andere Töne. "Ich höre Musik querbeet. Ethno, wahnsinnig viel Independent und Glamour. Die Ikonen der 60er-Jahre. Aretha Franklin. Dusty Springfield und natürlich auch Petula Clark. Dann in den 70ern, ich meine, wer heute sagt, er liebt die Beatles, da kann ich nur sagen: Die Beatles können es eigentlich mit Abba gar nicht aufnehmen. Und dann ist man wieder beim ESC." Abba besser als die Beatles? Ohne Zweifel, Jan Feddersen ist ausgesprochen meinungsfreudig!