Erstes Semi: Starke Frauen singen starke Botschaften
"Open Up" - mit diesem Motto beginnt nach zwei Jahren ESC-Pause das erste Halbfinale in der Ahoy Arena mit 16 Teilnehmerländern. Es geht darum, offen zu sein für Musik, die verbindet, aber auch für Meinungen und Geschichten. Nicht alle persönlichen Erzählungen werden am Samstagabend im großen Finale weitererzählt, denn nur zehn Kandidaten schaffen den Sprung dahin. Und es ist ein starkes Semi mit Favoriten wie Litauen oder Malta. Kommentatoren sprechen über diese erste Vorentscheidung gar von einem "Blutbad". Für sechs der Teilnehmer heißt es nach diesem Abend "Vaarwel Rotterdam".
Trotz des harten Konkurrenzkampfes ist sehr viel Lebensfreude zu spüren. Kein Wunder nach der Absage des ESC im vergangenen Jahr wegen der Corona-Pandemie. Zwar scheint das Thema noch allgegenwärtig, aber es herrscht Aufbruchstimmung: 3.500 Zuschauer mit negativen Corona-Test dürfen den Contest live erleben. Ein kleiner Schritt in Richtung alter Zeiten für Fans, wie für Künstlerinnen und Künstler. Viele von ihnen singen erstmals wieder vor Publikum. Und sie spüren die Vibrations!
Starker Auftakt von Litauen mit "Discoteque"
Und so rauschen gleich die ersten Favoriten in die Ahoy Arena: The Roop aus Litauen mit "Discoteque". Der charismatische Sänger Vaidotas Valiukevičius zwinkert mehrfach mit den Augen, er beherrscht das Spiel mit dem Publikum perfekt. Und nicht nur das, auch den "Fingertanz". Die Band in den gelben Anzügen legt vor einem schwarz-weißen Schachbrettmuster auf der LED-Wand eine perfekte Choreografie mit geschmeidigen Dance Moves hin. Aus dem Statement "Dance alone" entsteht fast so etwas wie eine "litauische Polonaise". Sie seien sehr froh, wieder vor Live-Publikum zu spielen, sagt Vaidotas im Green Room nach dem Auftritt. Und der ist so gut, dass wir "Discoteque" am Samstagabend wieder hören.
Manizha aus Russland setzt ein Zeichen der Solidarität
Dieses erste Semi ist auch ein Abend der Frauen - mit starken Stimmen und starken Botschaften. Im Fokus steht dabei: "Woman Empowerment", weibliche Selbstbestimmung und auch die dazugehörige Identität. Und das kommt an beim Publikum - so stellt Manizha aus Russland mit einem opulenten Trickkleid in Form einer Matroschka-Figur die Vielschichtigkeit von Frauen dar. Sie schlüpft in einem roten Overall aus der Puppe, rappt zum Song "Russian Woman" und verhehlt dabei nicht ihre tadschikischen Wurzeln.
Im Hintergrund erscheinen auf der Videoleinwand Fotos von Frauen aus aller Welt und Schriftzüge: "Be Strong", "Be The First", "Don't Be Afraid". Es ist ein Auftritt voller Energie, der ein Zeichen der Solidarität mit Frauen setzt - und Manizha einen Finalplatz sichert.
Den ersingt sich auch Eden Alene aus Israel mit "Set Me Free" - und das zu Recht! Die 21-Jährige mit äthiopischen Wurzeln überzeugt vor allem gesanglich. Sie trifft die tiefen, ebenso wie die hohen Töne. Ihre vier Tänzer legen eine schwungvolle Performance aufs Parkett und befreien die zierliche Eden Alene aus einem kurzen Trickkleid. Die Krone hat sie sich aus geflochtenen Haaren bereits aufgesetzt. Die junge Frau versprüht so viel Lebensfreude, das ist einfach zauberhaft.
Destiny aus Malta "schreit" sich ins Finale
Lebensfreude und weibliche Power bringt auch Destiny aus Malta mit. Sie zählt mit ihrem enormen Stimmpotenzial zum Favoritenkreis, was sie an diesem Abend eindeutig beweist. Sie singt Zeilen wie "I'm not your natural honey" und "I'm not your baby" im schwungvollen Popsong "Je me casse" - "Ich hau ab" zu Deutsch. Das ist schon sehr groß für die erst 18-jährige Sängerin. Am Schluss des Auftritts "schreit" sie sich förmlich ins Finale: "Ich liebe es so." Dort sehen wir auch Efendi aus Aserbaidschan und Elena Tsagrinou aus Zypern wieder. Beide liefern sehr solide Vorstellungen ab.
Tix und Hooverphonic - Kleine und große Überraschungen
Dass der Norweger Tix ins Finale einzieht, ist keine Selbstverständlichkeit. Vielen ist sein opulentes Engelskostüm zu viel, zu kitschig. Aber der Sänger hat sich von Probe zu Probe gesteigert - und absolviert schließlich einen sehr überzeugenden Auftritt zum Song "Fallen Angel". Die Bühne ist eingetaucht in ein sattes Blau und Tix davor wundervoll ausgeleuchtet. Himmlisch. "You are so beautiful Europe", ruft er ins begeisterte Publikum und zwinkert dabei hinter seiner Sonnenbrille kräftig mit den Augen. Den Kampf gegen seine Dämonen hat er fürs Erste erfolgreich bestanden. Fortsetzung folgt im Finale. Auch für Belgien mit Hooverphonic. Ihr Weiterkommen ist eine der Überraschungen des Abends. Viele konnten sich im Vorfeld nicht mit dem coolen Understatement der Band anfreunden. "The Wrong Place" hätte auch mit etwas Fantasie in einen Quentin-Tarantino-Film gepasst. Aber Sängerin Geike Arnaert strahlt in dem dunklen Bühnenbild so viel Souveränität aus. Sehr wohltuend zwischen all den quietschbunten Farben.
Go_A und Tusse komplettieren großes Finale
Das Finale am Sonntag komplettieren außerdem, wie erwartet die Ukraine mit einem der schönsten Bühnenbilder aus weißen Bäumen, Lichtkreisen und Goldstaub, der wie in Zeitlupe durch Finger rieselt. Go_A begeistern zu "Shum" ("Lärm") mit treibendem Beat und dem weißen Gesang ("Schreigesang") von Sängerin Kateryna Pawlenko. Mit dabei wird auch Tusse aus Schweden sein. Er punktet mit Ausstrahlung und Bühnenpräsenz. Man mag ihn einfach, den sympathischen Schweden, der als unbegleiteter Flüchtling mit acht Jahren aus der Demokratischen Republik Kongo in den hohen Norden gekommen ist - und "Stop all the haters" singt. Denn Millionen "Voices" stehen hinter ihm.
Balkanländer, Irland und Australien enttäuschen
Mal überzeugt der Song nicht, mal die Stimme. Ana Soklič aus Slowenien beherrscht alle Töne, aber der Song "Amen" wird ihr nicht gerecht. Ähnlich ergeht es Montaigne aus Australien. Sie hat außerdem den Nachteil, wegen Corona nicht live performen zu können. Der Nordmazedonier Vasil kann singen, aber die Musicalnummer "I Stand Here" ist einfach einen drüber. Dagegen kann Roxen wie schon in den Proben stimmlich nicht überzeugen. Auch Lesley Roy, sie gefällt zwar mit ihrer Scherenschnitt-und-Daumenkino-Performance, ihr Gesang bleibt aber weit dahinter zurück.
ESC-Sieger Duncan Laurence eröffnet Eurovision Song Contest
Einer kehrt an diesem Abend zurück: Duncan Laurence. Mit seinem Sieg 2019 in Tel Aviv hat er das Event in den Niederlanden möglich gemacht. Und so ist es an ihm, den 65. Eurovision Song Contest mit der poppig-elektronischen Nummer "Feel Something" zu eröffnen. Der "Small town boy" von einst ist erwachsen geworden, in seinem roten Anzug und mit neuer Frisur. Nach einem Jahr voller Beschränkungen fühlt sich der musikalische Abend wie ein Stück Normalität an, der im zweiten Semi und schließlich im großen Finale seine Fortsetzung finden wird.