ESC-Startreihenfolge beeinflusst Sieg-Chancen
Das Märchen, dass die Startreihenfolge beim Eurovision Song Contest keinen Einfluss auf das Ergebnis hat, wird uns, seit das Losverfahren 2013 abgeschafft wurde, Jahr für Jahr aufs Neue aufgetischt. Doch es ist nicht nur ein Bauchgefühl, wenn viele Fans der Eindruck beschleicht, dass sich der Song auf Startnummer zwei keine Hoffnung auf einen Sieg zu machen braucht. Der Einfluss der Startposition auf die Bewertung der Songs wurde schon eingehend wissenschaftlich untersucht - und weder Publikum noch Fachjury können sich davon freimachen. Ein Blick auf die Arbeit von Contest-Producer Christer Björkman lässt also darauf schließen, wie gut beziehungsweise schlecht die Qualifikationschancen für das ESC-Finale stehen.
Dramaturgie soll Zuschauer wachrütteln
Aus dramaturgischer Sicht hat Björkman auch in diesem Jahr ein ziemlich gutes Händchen bewiesen. Beide Semis starten mit Knallernummern, einmal von Zyperns Tamta, einmal von Armeniens Srbuk. Damit wird gleich die Aufmerksamkeit der Gelegenheitszuseher geweckt, denn unter den 200 Millionen Menschen vor dem Fernsehgerät oder Computerbildschirm gibt es - traurig aber wahr - eine ganze Menge Zuschauer, die nicht automatisch der Faszination des größten Musikwettbewerbs der Welt erliegen. Auf Startnummer zwei und drei folgen eher langsamere und unspektakulärere Nummern, um die Zuschauer dann mit Startnummer vier wieder wachzurütteln. Hier liegen im ersten Semi die Beiträge der polnischen Frauenband Tulia und im zweiten der von den Buchmachern hoch gehandelte Schweizer Luca Hänni.
Rhythmus lässt manche ESC-Teilnehmer blass aussehen
Was folgt ist ein relativ berechenbarer Rhythmus, in dem langsame auf schnellere, auffällige auf herkömmliche Beiträge folgen - ein Rhythmus, der allerdings den einen oder anderen Teilnehmer recht blass aussehen lässt. So dürfte der estnische Titel "Storm" von Victor Crone zwischen den beiden stark polarisierenden Songs aus Island und Portugal das Schicksal eines Pufferbeitrags erleiden, an den sich hinterher kaum noch jemand erinnert. Auch der norwegische Fanliebling "Spirit in the Sky" bewegt sich zwischen der albanischen Powerballade "Ktheju Tokës" von Jonida Maliqi und dem niederländischen Buchmacherfavoriten Duncan Laurence in gefährlichem Fahrwasser.
Außenseiter könnten als Schlussakkord glänzen
Manch einen mag es überraschen, dass Serhat mit seinem optimistischen "Say Na Na Na" die letzte Startnummer des ersten Semis zugeteilt bekommen hat. Tatsächlich eignet sich kein anderer Titel, der in die zweite Hälfte des ersten Halbfinals gelost wurde, besser als fröhlicher Schlussakkord der Show. Auch die Positionierung der flotten aserbaidschanischen Nummer von Chingiz auf Startnummer 18 im zweiten Semi folgt dieser Logik. Die großen Favoriten würden an dieser Stelle weniger Wirkung entfalten, dafür können gut gemachte Außenseiternummern von dieser Startposition durchaus profitieren. Wir dürfen also sowohl mit Aserbaidschan als auch mit San Marino im Finale rechnen.
Wenig Manövriermasse im zweiten Halbfinale
Vielen Fans unerklärlich ist die Aufeinanderfolge der beiden dramatischen Balladen aus Russland und Albanien im zweiten Semifinale. Verschwörungstheoretiker könnten glauben, dass Christer Björkman dem Russen Sergey Lazarev hier einen bösen Streich spielen wollte. Tatsächlich gibt es in der zweiten Hälfte der Show nur wenig Manövriermasse, wenn man - wie es den Anschein hat - keinen Schatten auf die Strahlkraft des niederländischen Beitrags werfen möchte. Bei aller Reihenfolgen-Spekulation sollte man allerdings nicht aus den Augen verlieren, dass neben der Startposition auch die Qualität von Song und Darbietung eine Rolle spielen. Und die ist ja, wie wir alle wissen, ein nicht ganz unerheblicher Faktor.