Sprechchöre und Buhrufe in London
Am Theaterbogen oberhalb des Eingangs stand geschrieben, was seit Wochen schon für Verzagte, die auf späten Kartenkauf setzten, deprimierend war: "Sold Out". Die Gala der BBC aus Anlass des 60. ESC in diesem Jahr zog 4.000 teils frenetisch gesinnte Zuschauer an. Das Eventim Apollo, wie dieses berühmte im Art-Déco-Stil gehaltene Showtheater nun heißt, war ein perfekter Ort für dieses Event. Die Atmosphäre war glänzend, und das mag auch damit zu tun haben, dass ESC-Fans ja gern wie eingefleischte Fußballfans stehen, um besser mitsingen zu können. In diesem Theater war das möglich. Und wie!
Hosenanzüge & Abendkleider
Die Liste der Acts an diesem Abend liest sich wie das Who's who aus vielen Jahren ESC: Emmelie de Forest, Anne-Marie David, die Herrey's, Dana International, die Olsen Brothers, Brotherhood of Man, Rosa aus Spanien mit einem Medley spanischer ESC-Legenden ("La La La", "Vivo Cantando" und "Eres tu") und ihrem eigenen Lied aus dem Jahr 2002 in Tallinn ("Europe's Living A Celebration"). Auch Nicole und ihr heftig beklatschtes mehrsprachiges "Ein bisschen Frieden“ reihte sich ein, Riverdance aus dem Jahre 1994 - der Interval-Act, der zum globalen Tanztheatererfolg wurde - und natürlich Lordi (mit Masken, klar), Natasha St-Pier (im sehr langen Abendkleid, auch klar), Dima Bilan, die Bobbysocks (wie neu erblüht, als sei's 1985), die beifallumtoste Loreen, Johnny Logan - und schließlich Conchita Wurst, die neben dem mächtigen Beifall für alle noch eine Extraportion klatschende Hände als Segnung erhielt.
Der Reigen der Stars muss jedoch um den wichtigsten Star ergänzt werden. Er stand jedoch weder in den Presseunterlagen noch wurde er von den Moderatoren Graham Norton und Petra Mede besonders erwähnt: Das war das Publikum selbst, das vielleicht an diesem Abend besonders beglückt wie aber auch ahnungslos war, dass die allermeisten Männer und Frauen der ESC-Showgeschichte ohne die Zuneigung der Fans nichts außer Könige und Königinnen einer Nacht geworden wären. 90 Prozent der Leute im Publikum zählen zu diesen Fans und Supportern, die die ESC-Bühnenfiguren lieben und antreiben.
Oder auch nicht lieben. Dima Bilan, der ja mit seinem Sieg 2008 in Belgrad für Russland ohnehin keine neuen ästhetischen ESC-Standards setzte, erhielt, ehe er auch nur die Bühne betreten hatte, Buhrufe: Sie galten, man muss das sehr vermuten, seinem Land, Russland und nicht dem Künstler. Am Ende erhielt er für seinen Titel "Believe" doch noch wärmend-applaudierende Unterstützung, aber nicht starke.
Nicole hingegen fiel durch starke Leidenschaft bei ihrem Lied auf. Sie sagte vorher nach der Generalprobe: "Hier ist wieder England.
Und Harrogate war auch England. Es ist 33 Jahre her. Und gefühlt war es irgendwie noch gestern.“ Nach ihrem Vortrag schien sie so gerührt, dass sie fast von der Bühne begleitet werden musste, um den nächsten Programmteil vorzubereiten: Sie genoss ihre ESC-Renaissance sichtlich.
Mehr als Oldies
Natürlich war es mehr als eine Oldieshow und zugleich kaum mehr als eine solche. Auffällig, wie wenig manche Siegestitel Patina angesetzt haben, aber doch an Reiz mit den Jahren verloren haben. Bei der TV-Ausstrahlung mag das jeder selbst überprüfen, welche Acts das sein könnten. Nett, dass Brotherhood of Man wenigstens ein paar Schrittchen ihrer famosen Choreographie von 1976 in Den Haag zeigten; auch sympathisch, dass Johnny Logan in Weiß auftrat und live wie eigentlich immer alles gab, als ginge es um sein Leben.
Am Schluss gab es natürlich bunten Staniolpapier-Schnitzelregen, auch eine Schlussnummer, bei der alle Sänger und Sängerinnen nochmal auf die Bühne kamen. Und Abba? "Waterloo" gab es denn auch noch: Ohne die schwedische Band, aber die Rollen der Frida und Agnetha, die wurden mit Leben gefüllt. Es waren Dana International und Conchita Wurst, die diesen Part sehr gelungen zusammen gaben. Feiner Einfall der BBC.
Und schließlich auch noch Lys Assia, die dem Vernehmen nach gern selbst auf die Bühne gewollt hätte, aber die BBC nicht erweichen konnte, sie auch zu lassen. Sie wurde aber interviewt und, im Publikum sitzend, mit Scheinwerfern hervorgehoben - und hatte so doch noch ihr kleines Solo. Der NDR wird die Show auf dem Wege nach Wien zur ESC-Woche zeigen. Auf welchem Sender der ARD ist noch offen. Einschalten lohnt sich sehr. Kommentare nach der Show, wenn wir sie gemeinsam gesehen haben.