Kommentar: Wie gut sind die ESC-Songs wirklich?
Journalisten klatschen keinen Beifall, das ist von Berufs wegen verboten. Sie mögen von dem, was sie sehen und hören, was sie beobachten und darüber notieren, erstaunt sein. Oder überrascht. Angenehm oder unangenehm. Aber Medienleute behalten das Persönliche außer in einem Kommentar bitte für sich, ergreifen eigentlich nicht Partei - und sei es durch wohlwollenden Applaus.
Das ist beim Eurovision Song Contest anders: Hunderte Medienleute sind akkreditiert, aber es sind meistens Fans, die für die Medien arbeiten. Und die ihren Gefühlen freien Lauf lassen, wenn eine Künstlerin auf die Frage des Moderators schwört, Salvador Sobrals portugiesisches Siegeslied "Amar pelos dois" sei ihr allerliebstes ESC-Lied aller Zeiten. Applaus! Oder wenn selbst die trivialsten Äußerungen von Beifall spendenden Händen kommentiert werden, als hätte da jemand gerade den Abschluss der Weltfriedensverhandlungen verkündet. Gern gibt es Zustimmung für Äußerungen wie: "Die Botschaft meines Liedes ist Energy." Prasselnde Zustimmung!
"Hier sind alle gleich"
Aber so sind die Riten beim ESC, beim Fußball ist es ja auch nicht anders - oder in der Politik, wenn auf der Bundespressekonferenz scheinkritische Frage gestellt werden: "Frau Bundeskanzlerin, denken Sie nicht auch …?" Nur: Es gibt beim ESC nie einen Unterschied im Detail. Oder wie es Alexander Rybak aus Norwegen Sonntagabend bei der Welcome Reception sagte: "Hier sind alle gleich gut, hier sind alle Genres, hier respektieren sich alle gleich."
Was für ein Quatsch - der Unterschied zwischen einem Rybak, 2009 schon einmal ESC-Gewinner, und einem Alekseev aus Weißrussland ist, dass der Norweger viel mehr finanzielle Mittel zur Verfügung hat als der Junge aus Minsk, um sich werblich in Szene zu setzen. Und außerdem ein Profi ist, und sein weißrussischer Kollege ein Talent.
Die Dinge sind, wie sie sind - die einen haben eine Marketingagentur oder einen begnadeten Promotion-Menschen im Rücken, wie etwa 1974 Abba und 1998 Guildo Horn, um nur zwei historische Beispiele zu nennen. Andere, etwa auch Michael Schulte, haben bis vor kurzem noch ihre Termine selbst gemanagt.
Komplimente statt Fragen
Gerecht ist die Welt eben nicht. Nur: Solche Fragen werden im ESC-Kontext überhaupt nicht verhandelt. Denn alle seien gleich, gut, schön und wahr. Und: "Toll, dass du da bist beim Eurovision Song Contest" oder "Dein Lied hat mich tief berührt" - das sind die Sätze, die fast alle ESC-Teilnehmer von Journalisten statt echter Fragen als Kompliment angedient bekommen. Hinter den Kulissen, etwa in den Raucherecken, geht es schon ehrlicher zu. Dort ist zum Teil auch sehr, sehr deutliche Kritik an den verschiedensten Teilnehmern zu hören.
Ein eigenes Universum
In Wahrheit ist beim ESC eben nicht jedes Lied gleich, vor allem nicht gleich gut. Klar, es ist schön, dass 43 Länder zu Gast sind - und man nichts vom neuen Nationalismus oder von politischen Spannungen sonstiger Art mitbekommt. Ein ESC ist ja wirklich ein anderes Universum, das allerdings nicht weniger wahrhaftig ist, als etwa eine politische Spitzenkonferenz.
Alles in Grund und Boden loben?
Aber muss das gleich heißen, sich in Grund und Boden zu loben? Sich Kritik, gar kritische Fragen völlig vom Leib zu halten? Nur ein Beispiel: Weshalb wird die Russin Julia Samoylowa, die an den Rollstuhl zwingend gebunden ist, auf der Bühne so eingepackt, dass nichts von ihrem Handicap zu sehen ist? Berührt das nicht Fragen nach guter Inklusion, wie sie inzwischen auch in jedem Land der ESC-Zone diskutiert werden? Weshalb wird das nicht seriös verhandelt?
Sei's drum: Auch künstlerisch gibt es Unterschiede, mächtige sogar. Der eine, Benjamin Ingrosso aus Schweden, lässt sein Lied in Los Angeles vor dem Einsatz beim ESC aufpolieren. Einigen Liedern nützt die Sonderlackierung durch amerikanische Hilfe, anderen allerdings würde dies auch nicht weiterhelfen. Mithin: Es gibt viel ästhetischen Sondermüll unter den ESC-Acts. Und das war immer schon so.
Dies hat mit vorhandenen oder fehlenden Begabungen zu tun, überwiegend aber mit vorhandenem oder fehlendem Geld. Aserbaidschan, Russland, Schweden investieren Jahr für Jahr viel, San Marino, Mazedonien oder Litauen würden das auch wollen, können es aber nicht. Schade, dass das nur selten Thema ist!