Politik und Punkte: Feddersens Jahresrückblick
Den Eurovision Song Contest hat 2016 ein ganz besonderer Beitrag gewonnen, den es so in der Geschichte des Wettbewerbs noch nie gab. Doch das war nicht das Einzige, was am diesjährigen ESC außergewöhnlich war. Meine Jahresbilanz in zehn Schritten.
1. Die ESC-Geschichte hat immer viel Politisches gezeigt. Aber noch nie hat eine solch ausdrücklich politische Geste dieses legendäre Eurovisionsfestival gewonnen wie Jamala und ihr "1944". Die Ukrainerin, im gewöhnlichen Leben vor dem ESC in ihrem Land bekannt für Jazziges, besang das Schicksal der Krimtataren in den 1940er-Jahren, einer Menschengruppe auf der jüngst von Russland okkupierten ukrainischen Krim am Schwarzen Meer. Sehr elegisch, sehr einfühlsam, stimmlich von hörbarer Delikatesse. Beifall in Mengen für eine würdige Siegerin.
2. Andererseits glaube ich, dass Jamalas Lied zählte, nicht ihre und dessen politische Botschaft. Ihr Aufritt hob sich in jeder Hinsicht von allen anderen ab - und war durch die Sängerin vorzüglich ins Mikro und die Kameras transportiert. Wo sonst Konfektions-Pop aufgeregter, meist überinszenierter Sorte im Angebot war, sang die Ukrainerin ruhig ihren dramatischen Beitrag. Worte werden im Lied immer überschätzt - das durfte man in diesem Jahr lernen.
3. Der ESC machte zum dritten Mal Station in Schwedens Hauptstadt. Nie war der ESC so kühl und klar organisiert wie dieser. Selbst der prima und professionell organisierte Düsseldorfer ESC von 2011 wirkte gegen die Stockholmer Veranstaltung wie ein freundliches Hippielager. Nichts ging schief, alles lief glatt, selbst das Wetter war überwiegend frühsommerlich gestimmt. Das Beste: das Abba-Museum in Grönalund.
4. Als Interval-Act konnte der US-Star Justin Timberlake gewonnen werden. "Can't Stop The Feeling" ist nach dem ESC zum Mega-Hit weltweit geworden, an dem bis heute kein Radiosender vorbeikommt.
5. Erstmals wurde das neue Punktesystem zelebriert. Zuerst stimmten die Jurys ab, danach kamen in einem sehr komplizierten Verfahren die addierten Televotingergebnisse. Am Ende hatte Sergey Lazarev aus Russland das Publikum am stärksten auf seiner Seite, die Australierin Dami Im die Expertenrunden. Aber Jamala kam doch auf den ersten Platz, weil sie bei Jurys und Publikum am zweitstärksten war. Insofern: schöne Neuerung. Wurde nach 41 Jahren ja auch mal Zeit. Überraschend, dass Polen durch das Televoting noch sehr weit nach vorne kam. Lag natürlich daran, dass viele ausgewanderte Polen und Polinnen für ihr Heimatland stimmten.
6. Die Deutsche Jamie-Lee fand sich am Ende auf dem letzten Platz wieder, der zweite deutsche letzte Platz in Folge. Ungerecht, oder? Ja, das war ungerecht. Die deutsche Debatte nach Jamie Lees letztem Platz nervte aber. Immer wieder das Gemosere, Stefan Raab sei nicht mehr dabei und deshalb für deutsche ESC-Belange alles vorbei. Ach, als wenn sich dieses Meckermuster nicht seit Jahrzehnten wiederholt: Immer wurde nach schlechten Platzierungen - in jedem Land, gern in Deutschland - der Untergang des eurovisionären Abendlandes beklagt. Leute, bitte, andere Länder haben auch gute Lieder - häufig bessere. Wie sagte einmal Linda Martin, ESC-Siegerin von 1992, außerdem: "It’s only a song contest." Eben.
7. Schön, dass die Österreicherin Zoë mit "Loin d'ici", einem der schlichtesten Schlager seit 2002 (Francine Jordis "Dans Le Jardin De Mon Ame") ins Finale kam und ESC-Fans glücklich stimmte. Fein auch, dass es Tschechien erstmals ins Finale schaffte. Freude ebenso mit Poli Genova, die mit dem vierten den besten Platz für Bulgarien seit dessen ESC-Debüt 2005 schaffte.
8. Man darf davon ausgehen, dass Australiens erster ESC-Auftritt 2015 in Wien wirklich nur der erste war - sie werden jetzt immer wiederkommen. Dami Im hüpfte diesmal mit einer Monsterschnulze auf den zweiten Platz: Dieses Land wird noch viele starke Interpreten schicken. Gut so!
9. Südkorea, die USA, China - angeblich alles Kandidatenländer für einen ESC. Ich fände das übertrieben. Besser: Würde die Türkei wieder dabei sein. Schade, dass die politische Entwicklung in diesem Land nicht auf Europäisierung setzt, sondern auf kulturelle Zensur im Sinne türkischer Erbaulichkeit. Sehr schade ist das. Und traurig.
10. Das eigentliche Ereignis dieses ESC-Jahres ist: dass das Eurovisionsfestival existiert. Noch. Die nationalistischen Tendenzen in Europa machen den ESC nicht gerade "europäischer". Der ESC ist aber einst aus dem Geist der europäischen Verständigung geboren worden. Das ist ein politisches und kulturelles Gut, das nicht leichtfertig aufs Spiel gesetzt werden sollte.
P.S.: Eine traurige Nachbemerkung, die nicht nachrangig verstanden werden soll, sie gehört auch zu diesem Jahr. Einer der interessantesten deutschen ESC-Künstler ist gestorben: Roger Cicero. Am 24. März erlitt er einen Schlaganfall, von dem er nicht mehr zurück ins Leben fand. 2007 in Helsinki war er deutscher Eurovisionskandidat, sang dort "Frauen regier'n die Welt" und landete mit einem 19. Platz weiter hinten im Feld. Er blieb ein Prominenter, ein Freund vieler Musiker: Wir gedenken seiner in Ehren.