Faktencheck: Pro und Contra neues Punktesystem
Jüngere ESC-Zuschauer werden es kaum noch wissen: Das Punktesystem wurde in den vergangenen 60 Jahren schon mehrmals verändert - was die Statistiker unter den Fans schier zur Verzweiflung treibt. Mal ging es um die Zusammensetzung der Jurys - wie viele Männer, wie viele Frauen, Experten oder Laien, vor Ort oder zugeschaltet per Telefon oder Satellit -, mal um die Anzahl der vergebenen Stimmen oder Punkte. Immer wieder rangen die Vertreter der teilnehmenden Rundfunkanstalten darum, das Verfahren nachvollziehbar, fair und spannend zu gestalten. Eines mussten sie dabei aber immer wieder feststellen: Ein vollkommen gerechtes Punktesystem gibt es nicht.
Überall dort, wo keine konkret messbaren Leistungen bewertet werden und der persönliche Geschmack von Menschen entscheidet, bleibt das Ergebnis bis zu einem gewissen Grad äußeren Einflussfaktoren unterworfen. Und diese haben im Fall des Eurovision Song Contests nicht unbedingt etwas mit der musikalischen Darbietung zu tun. Da genügt es schon, dass ein Juror oder Televoter eine schlechte Urlaubserinnerung mit einem bestimmten Land verbindet. Schwupps, fällt sein Urteil deutlich negativer aus als bei den übrigen Zuschauern. Insofern wollen wir uns an dieser Stelle auf eine ganz andere Frage konzentrieren, nämlich ob das neue Punktesystem fair ist. Und spannend. Und ob sich die Zuschauer damit identifizieren können.
Ist das neue Punktesystem fair?
Nicht wirklich fair war das Wertungsverfahren seit 2013, als die Jury die Entscheidung des Publikums zum Teil völlig aushebeln konnte. Sie brauchte einen Song nur schlecht genug zu bewerten und sämtliche Anrufe und SMS für den lokalen Favoriten waren völlig für die Katz. Selbst wenn der erste Rang beim Televoting dem besonderen Engagement einer bestimmten Bevölkerungsminderheit geschuldet war, sollten die Stimmen dieser Minderheit doch nicht gänzlich unter den Tisch fallen. Ihr mit der Jury ein Korrektiv entgegenzustellen ist dagegen völlig ok, und genau das macht das neue Punktesystem viel besser als das alte. Streng genommen entspricht es dem alten Prozedere, die zehn bestplatzierten Beiträge aus Jury- und Publikumswertung zusammenzuwerfen und daraus die finale Wertung zu basteln. Nur, dass nach dem Addieren nicht noch einmal in die üblichen 1 - 12 Punkte umgerechnet wird und am Ende deutlich höhere Gesamtpunktzahlen herauskommen werden.
Fazit Fairness: Die neue Punktevergabe ist fairer als das alte System, weil sie die Entscheidungen von Publikum und Jury gleichermaßen berücksichtigt.
Ist das neue Punktesystem spannend?
Eine der jüngsten Neuerung vor Einführung des neuen Punktesystems war die Wiedereinführung der Jury 2009. Sie war dem Wunsch geschuldet, der Vorhersehbarkeit der sogenannten "Nachbarschaftswertungen" einen Riegel vorzuschieben, um die Punktevergabe wieder spannender zu machen. Grundsätzlich eine clevere Idee, doch warum sollten Vertreter oder Kenner der heimischen Musikindustrie so gänzlich anders entscheiden als das Publikum, das sie vertreten oder kennen sollen? Sicher ist: Songs, die Pfade abseits des platten Mainstreams beschreiten, werden durch die Jury häufig vor dem kompletten Absturz bewahrt. Das kommt der Sympathie vieler Zuschauer für musikalische Außenseiter sehr entgegen.
Aus der Not der unterschiedlichen Bewertungen von Publikums- und Fachjury macht das neue System eine Tugend. Nachdem die einzelnen Länderpunkte der Fachjurys verlesen wurden, kann die Publikumswertung das Ergebnis noch einmal komplett von hinten aufrollen. Es ist zwar nicht zu erwarten, dass die Letzten die Ersten sein werden, doch kurz vor dem Ende der Entscheidung wird das Ranking noch einmal gründlich durcheinandergewirbelt. Aus dramaturgischer Sicht ist das Ganze auf jeden Fall ein kluger Schachzug, zumal die unsägliche Praxis dabei auf der Strecke bleibt, uneinholbare Sieger schon vor der letzten Wertung zu verkünden.
Fazit Spannung: Die neue Punktevergabe garantiert den Veranstaltern in jedem Fall einen vergleichsweise spannenden Wertungsverlauf.
Können sich Zuschauer mit dem neuen System identifizieren?
Einen Wermutstropfen hat das Ganze allerdings doch: Das Televoting wird nicht Land für Land abgerufen, sondern gesamteuropäisch hinzuaddiert - ähnlich, wie dies seit einigen Jahren beim schwedischen Melodifestival praktiziert wird. Der Zuschauer vor dem Fernsehen weiß also nicht, wie das Publikum in seinem Land abgestimmt hat. Klar, bestimmte Konstellationen - etwa Griechenland/Zypern - bleiben über die Jahre unverändert, doch es gehen auch spannende Infos unter. Denn nur eingefleischte Fans werden irgendwann nach der Show im Internet erfahren, dass das russische Publikum einer bärtigen Diva aus Österreich durchaus positiver gesinnt ist, als es die Jury vermuten lässt. Und das ist bei allen noch so positiven Aspekten des neuen Systems doch ein ziemlich herber Verlust.
Fazit Identifikation: Es ist schwierig einzuschätzen, ob ein Konzept, das für eine nationale Vorentscheidung entwickelt wurde, auch gesamteuropäisch funktioniert. Dass die nationalen Televotingergebnisse nicht durchgegeben werden, verringert vermutlich die Identifikation mit dem Resultat. Allerdings ist eine Identifikation mit der nationalen Jurywertung möglich - wie ja schon in der Vergangenheit. Der Informationsverlust für die breite Öffentlichkeit ist allerdings bedauerlich.