Feddersens Analyse zum ESC-Sieg Portugals
Sieger des Eurovision Song Contest, die die Herzen der allermeisten wärmen, gibt es nur selten. Der Portugiese Salvador Sobral gehört genau zu dieser Sorte - und zwar zu Recht. Europaweit fielen die Reaktionen auf seinen Triumph von Kiew deutlich überwiegend positiv aus. Kein Wunder: Ein Lied aus Portugal, das so gar nicht wie ein stark inszenierter Act daherkam, sondern leise und wehmütig, anders als alles andere aus den 41 weiteren teilnehmenden Ländern. Das war auch ein bisschen wie der gelungene Kampf des David gegen alle Goliaths dieses 62. Eurovision Song Contest.
Ein Missverständnis ist der öffentlichen Wahrnehmung dieses Resultats doch anzumerken, und Sobral hat es selbst befördert. Der 27-Jährige bemerkte im Moment seines Sieges, es sei ein Sieg der Musik, nicht ein Sieg für ein Feuerwerk. Diese Äußerung hat dem Schweden Robin Bengtsson nicht gefallen.
Kritik an Sobrals Siegesrede
Bengtsson, der mit "I Can't Go On" eine dieser Nummern mit "Feuerwerk", also mit Mitteln außerhalb des reinen Liedguts, darbot, teilte nach dem ESC über einen Instagram Post an die Adresse Salvador Sobrals mit: "Herzlichen Glückwunsch zu deinem Sieg, ich mag dein Lied und die Art und Weise, wie du singst, aber deine Rede nach dem Gewinn des ESC war eines echten Siegers unwürdig." Dem Schweden missfiel vor allem Salvadors abschätzige Haltung gegenüber populärer Popmusik, die der ESC-Gewinner als "Fast Food Musik" abtat. Diese aber, so Bengtsson, könne "so schön sein wie dein Lied. Es gibt genug Platz für alle."
Nicht allein der Song hat den ESC 2017 gewonnen
Ich muss gestehen: Das schwedische Lied mochte ich nicht so sehr, aber die Kritik Bengtssons ist in jeder Hinsicht zutreffend. Denn: Der ESC ist eine Mixtur aus unterschiedlichen Stilen - und soll es auch bleiben. Außerdem hat Salvador Sobral nicht allein wegen seines Liedes gewonnen, so von wegen: Noten mit echter Musik pur. Vielmehr hat diese Art von Musik in diesem Jahr die Herzen berührt. Das könnte im nächsten Jahr ganz anders aussehen.
Sobrals Kritik hörte sich an, als wären die Siege der ultra-inszenierten Acts von Måns Zelmerlöw beim ESC 2015 in Wien, Conchita Wurst 2014 in Kopenhagen oder auch vor inzwischen 13 Jahren Ruslana absurd, schlimm und qualitativ minderwertig. Das Gegenteil ist in mehrerlei Hinsicht richtiger: Denn die genannten Gewinner-Acts lebten auch von Musik, Text und Komposition, vom individuellen Können und - darauf kommt es an - vom Momentum. Wenn also eine Person einen musikalischen Beitrag kongenial mit Leben erfüllt. Wäre Sobrals Lied von einem anderen Künstler interpretiert worden - sagen wir dem sanmarinesischen Duo - hätte es nicht gewonnen. Das darf man wohl zutreffend spekulieren. Das Gesamtpaket entscheidet - die Atmosphäre des Abends mithin.
Auch Portugals Act war inszeniert
Entscheidender zu sagen ist mir jedoch, dass Portugals ESC-Lied so inszeniert war wie kaum ein anderes. Allein schon die Umstände der Probentage: Das Geraune im Presse- und Fantross, weil Salvador Sobral noch in Portugal weilte und seine Schwester Luisa für ihn die Rehearsals erledigte. Oder der Look des jungen Mannes, hippiemäßig antimodisch, was gerade europaweit bei vielen in Mode ist. Seine hauchend-leidenschaftliche Art zu Singen ist ohnedies gerade in den Charts ziemlich populär. Darüber hinaus hatte das Team Sobrals die restriktivste Medienpolitik aller Acts. Interviews? So gut wie Fehlanzeige - anders als der Italiener Francesco Gabbani, der Schwede oder der Bulgare, der zweitplatzierte Kristian Kostov: Letztere waren locker und in gewisser Weise authentisch. Salvador Sobral hingegen - eine männliche Diva, die sich so rar machte wie niemand sonst. Und auch an den Tagen, an denen er in Kiew zugegen war.
Dieser ESC hielt andere Lehren parat, nicht die von der "Natürlichkeit" des Portugiesen: Dass Acts, die auf skandinavische Hilfe zurückgriffen, eher abgeschlagen endeten; dass ein Lied in der Landessprache gewann; dass es allen Prognosen zum Trotz Favoritenstürze gibt (armer Francesco Gabbani); dass "leise" Acts immer Chancen haben, nicht nur "laute". Und dass die Anmutung von Natürlichkeit Punkte bringt. Glückwunsch einmal mehr: Salvador und Luisa Sobral!