Lenny Kuhr: "Ein richtiger Hippie war ich nicht"
Vier Mal haben die Niederlande beim Eurovision Song Contest gewonnen. Den außergewöhnlichsten Sieg hat dabei die charismatische Lenny Kuhr davongetragen. Vor 40 Jahren siegte sie in Madrid mit ihrem Titel "De Troubadour", war jedoch nicht die einzige Siegerin: 1969 siegten vier Länder gleichzeitig (Frankreich, Spanien, Großbritannien). Mit eurovision.de sprach Kuhr am 20. Oktober 2009 über Hippies, ihre Co-Siegerin Frida Boccara, einen dramatischen Stimmverlust und ihre Abneigung gegen Nostalgie.
eurovision.de: Sie sind seit mehr als vier Jahrzehnten Musikerin, allerdings mit einer großen Zäsur, denn zwischendurch hatten Sie Anfang der 90er-Jahre Ihre Stimme verloren. Wie haben Sie sich davon erholt?
Lenny Kuhr: Es passierte einfach so und hatte keine der bei Sängern üblichen Ursachen. Erst verlor ich die tiefe Tonlage, danach konnte ich keine Vokale mehr aussprechen. Der Druck auf die Stimmbänder war weg, ich konnte nur noch leise piepsen. Es war furchtbar peinlich, fast ein Jahr habe ich gebraucht, um wieder sprechen zu können und noch weitere sieben Jahre, um wieder kraftvoll singen zu können. In der Zeit habe ich viel gelernt, es war fast wie eine neue Geburt.
eurovision.de: Stimmt es, dass Ihre französische Kollegin Frida Boccara und Mitgewinnerin des ESC von 1969 Ihnen durch diese Zeit geholfen hat?
Lenny Kuhr: Sie hat mich angerufen und ich spürte, dass sie die Einzige war, die wirklich wusste, was in mir vorgeht. Auch sie hatte enorme Schwierigkeiten nach ihrem Grand-Prix-Sieg. Sie hat mir wirklich sehr geholfen. Im Oktober trete ich im Rahmen meiner Tour mit den "Troubadours van alle tijden" in Paris auf, ihre Schwester Line wird auch dort sein. Ich werde ein Lied für sie singen. (Anm. d. Red.: Frida Boccara starb 1996 an den Folgen einer Lungenentzündung).
eurovision.de: Wie ist es Ihnen 1969 ergangen, als Sie sich in Madrid den ersten Platz mit Frida Boccara aus Frankreich, der Spanierin Salomé und der Britin Lulu teilen mussten?
Lenny Kuhr: Das war verrückt. Danach wurden die Regeln geändert, damit das nicht wieder passiert. Das Teilen hat mich nicht gestört, ich war glücklich, konnte mich über nichts beschweren. Später hat man mir gesagt, dass ich nach dem heutigen Punktesystem 1969 gesiegt hätte. Es ist mir egal, es war fantastisch, zu gewinnen. Fridas Stimme war so berührend. Ich bin stolz, dass ich mir mit ihr den Sieg geteilt habe.
eurovision.de: War Ihnen bewusst, dass der Wettbewerb in der spanischen Hauptstadt unter einem Terror-Regime stattfand oder dass die Niederlande erwogen hatten, die ESC-Teilnahme zu boykottieren?
Lenny Kuhr: Ich war mit 19 Jahren damals zu jung, um wirklich zu verstehen, was vor sich geht. Man hat mich gefragt, ob ich am Grand Prix teilnehmen möchte und ich wollte natürlich unbedingt. Ich habe mir keine großartigen Gedanken über die politische Lage gemacht. Ich war vielleicht etwas naiv damals und habe mir erst später Vorwürfe gemacht, wieso ich nichts bemerkt habe. Obwohl: Irgendwie hat man schon gespürt, dass die Menschen in Madrid unter Druck standen. Ich habe erst viel später verstanden, was damals passierte.
eurovision.de: In Madrid gab es zwar vier Gewinner. Sie stachen unter ihnen jedoch aus mehreren Gründen heraus: Andere Interpretinnen trugen kurze Kleider und toupiertes Haar. Sie trugen offene, lange Haare und ein bodenlanges Kleid, hatten als einzige den Song selbst verfasst. Waren Sie ein Hippie?
Lenny Kuhr: Ein richtiger Hippie war ich nicht, obwohl man das nie sicher sagen kann. Irgendwie wird man durch seine Umgebung beeinflusst und merkt es nicht. Ich hatte bereits damals immer das Bestreben, das Universelle in der Musik zu suchen, das Reine, etwas, das Bestand hat. "De troubadour" war ein Teil von mir. Natürlich habe ich mich seitdem verändert, was gut ist, denn wenn man älter und erfahrener wird, bereichert sich dadurch die eigene Musik. Ich habe nicht nur an Reinheit dazu gewonnen, sondern auch gelernt, die Dinge relativ zu betrachten. Wenn man jung ist, geht das nicht, da nimmt man alles so wichtig. Erst später merkst du, dass du viele Entwicklungen durchmachst, die wie ein Puzzle zusammengehören.
eurovision.de: Wie sehr wurden Sie durch anglo-amerikanische Songwriter wie Bob Dylan beeinflusst?
Lenny Kuhr: Ich mochte sie, meine Passion galt aber zunehmend der spanischen Musik, der Salsa, dem portugiesischen Fado, dem französischen Chanson. In Frankreich war ich über ein Jahrzehnt tätig, bin mit dem Songwriter George Brassens getourt und habe Platten aufgenommen. Trotzdem habe ich stets in Holland gelebt, ich wollte nicht in Frankreich wohnen.
eurovision.de: Wieso nicht?
Lenny Kuhr: Ich mochte Paris nicht so gerne. Jedes Mal, wenn ich zurück nach Hause kam, dachte ich: Hier gibt es authentische Menschen. Die Pariser sind nicht so offenherzig. Außerdem wollte ich nah an meinen Wurzeln bleiben. In Frankreich wollten sie mich zum Star machen und gaben mir gute Lieder. Später habe ich festgestellt, dass sie mir etwas zu kommerziell waren, was gut für die Plattenlabels war, aber in Holland konnte ich mein eigenes Ding machen.
eurovision.de: Sie sind zum Judaismus konvertiert, Ihre Töchter aus erster Ehe mit einem Israeli und Enkel leben in Israel. Sie sind nicht bei ihren Wurzeln geblieben ...
Lenny Kuhr: Sie sind beide in Holland aufgewachsen, obwohl meine jüngere Tochter in Israel geboren wurde.
Ich war dreißig und knapp ein Jahr nach ihrer Geburt trennten mein Mann und ich uns und ich ging zurück nach Holland, bin aber immer mit dem Kindesvater und Israel im Kontakt geblieben und oft hingefahren. Meine ältere Tochter wollte dort studieren und blieb, die andere wollte ihre Schwester ein paar Monate besuchen und blieb auch. Ich kann das verstehen. Wenn ich so alt wäre, wie sie, hätte ich dasselbe getan.
eurovision.de: Und doch singen Sie ausgerechnet Schuberts "Litanei auf das Fest aller Seelen" beim Gedenktag der Befreiung des niederländischen Konzentrationslagers Herzogenbusch (Kamp Vught).
Lenny Kuhr: Dort, wo wir standen, um das Lied zu singen, konnten wir die Baracken sehen. Es war ein gespenstisches Gefühl, das Lied dort zu singen. Aber das ist einer dieser Kontraste, die Teil des Lebens sind. Solche Kontraste will ich auch unserem Publikum während unsere aktuellen Tournee vermitteln, all die guten Geschichten, die wir zu erzählen haben.
eurovision.de: Mit wem touren Sie, wer sind Ihre Troubadouren?
Lenny Kuhr: Mit dem Pianisten Frans de Berg und Ralph Rousseau, der die Viola da Gamba spielt. Wir experimentieren mit unserer Konstellation: Noch nie wurde die Viola da Gamba mit Klavier und Gitarre kombiniert. Wir spielen klassische Lieder von Tobias Hume, John Dowland , Franz Schubert aber auch Fado, Tango und Chansons bis zu einigen Lieder von mir. Wir wollen mit unserem Programm die Expressionen der Liebe vom 16. Jahrhundert bis heute zeigen, diese Schwankungen zwischen Himmel hoch jauchzend und zu Tode betrübt.
eurovision.de: Welche sind Ihre ESC-Favoriten?
Lenny Kuhr: Abbas Waterloo und Fridas Lied "Un jour, un enfant", ein sehr klassischer Titel. Vor ein paar Jahren hatte Marija Serifovic aus Serbien ein gutes Lied. Das war das erste Mal seit Jahren, dass jemand wirklich etwas riskiert hat und einmal sie selbst gewesen ist. Das gefällt mir. Der Grand Prix hat sich in den letzten Jahren extrem Richtung Technik und Aussehen entwickelt. Die Lieder werden dadurch vorhersehbar. Die Teilnehmer analysieren andere Siegertitel und hoffen, daraus eine Gewinnerformel zu destillieren. Ich denke: Wenn ihr nicht wisst, was für ein Lied geeignet ist, macht doch einfach etwas, was schön ist, was ihr mögt. Statt dessen wird immer die Melodie mit dem größten Erkennungswert ausgesucht. Wenn das Lied schlecht ist, ist es manchmal eine Bestrafung, danach einen Ohrwurm zu haben! Man muss die Zuhörer mit einem Grand Prix Song berühren können.
eurovision.de: Wie haben Sie ihr 40. Jubliäum des ESC-Sieges gefeiert?
Lenny Kuhr: Ich bin die letzten zwei Jahre mit meinem Programm "40 Jaar verliefd" (dt.: 40 Jahre verliebt) aufgetreten, mit meinen Liedern aus vier Jahrzehnten. Obwohl (zögert) ... um ehrlich zu sein, hat man lange gebraucht, mich zu diesem Programm zu überreden. Ich mag keine Nostalgie. Dieses eine Mal habe ich es getan und mir all die Lieder angeschaut, die im Laufe der Jahre entstanden sind. Es war gut, einige dieser Lieder wieder aufzunehmen, sie mit meiner Band zu spielen und zu gucken, was ich beim Singen im Vergleich zu den Auftritten von vor 20 oder 30 Jahren fühle.
Vielen Dank für das Gespräch!