Top oder Flop? Das neue ESC-Wertungssystem
War das ein Wertungskrimi am ESC-Finalabend! Bis zur letzten Wertung war unklar, ob die Punkte des Publikums reichen würden, um Russland die Führung und damit den Sieg beim 61. Eurovision Song Contest zu ermöglichen. Sie reichten nicht, Russland landete hinter der Ukraine und Australien auf Rang 3 und die Diskussion über Sinn und Unsinn des neuen Wertungssystems war eröffnet. Dass sie aktuell so hitzig geführt wird, hat natürlich auch etwas mit der politischen Dimension des musikalischen Zweikampfs zwischen dem Russen Sergey Lazarev und der Ukrainerin Jamala zu tun. Sie ist aber auch oft dem Unwissen über die Hintergründe der Wertung geschuldet. Darum werfen wir mal einen genaueren Blick auf das neue System.
Kein völlig neues Wertungssystem
Ganz so neu wie es in vielen Medien dargestellt wurde, ist es nämlich gar nicht. ESC-Fans wissen natürlich, dass die Fachjury schon seit 2009 für die Hälfte des Ergebnisses verantwortlich zeichnet, auch wenn mancherorts über die neu eingeführte "politische Jury" schwadroniert wurde. Eigentlich entspricht das Wertungsverfahren dem System, das zwischen 2009 und 2013 angewendet wurde - nur dass die Punkte von Fachjury und Publikum nicht zu einer Gesamtwertung verschmelzen, sondern separat aufaddiert werden. Das Ergebnis kann dennoch sehr unterschiedlich ausfallen: So hätten beispielsweise 2009 nach dem neuen System auch Armenien, Aserbaidschan, Dänemark, Israel und Portugal Punkte aus Deutschland erhalten. Sie wurden in der Gesamtwertung nicht berücksichtigt, obwohl die jeweiligen Beiträge bei der deutschen Fachjury beziehungsweise dem Publikum in den Top Ten rangierten.
Politische Wertung
Deutlich wurde durch das neue System vor allem, dass es nicht in erster Linie das Publikum ist, das politischen Erwägungen folgt. Hier sind vor allem die Wertungen aus der Ukraine und Russland zu nennen: Während die russische Fachjury Jamalas "1944" auf Rang 24 setzte, gefiel das umstrittene Lied dem russischen Fernsehpublikum immerhin am zweitbesten. Umgekehrt setzte die ukrainische Fachjury Sergey Lazarevs "You Are The Only One" auf Rang 22, während die ukrainischen Zuschauer am häufigsten für den russischen Superstar anriefen. Aus Sicht der Juroren ist dies verständlich: Niemand dürfte sich freiwillig der Gefahr eines Lynchmobs vor der eigenen Haustür aussetzen, wenn er dem Beitrag des verfeindeten Landes Punkte gibt, schließlich sind die Jurymitglieder namentlich bekannt. Ähnlich sah es mit Armenien und Aserbaidschan aus, die sich gegenseitig auf den letzten Rang setzten - sowohl in der Jury- als auch in der Publikumswertung. Und das, obwohl die sexy Performances von Samra und Iveta Mukuchyan durchaus Parallelen aufwiesen.
Nicht zwangsläufig spannender
Der Anspruch, die Wertung bis zum letzten Augenblick spannend zu halten, wurde in diesem Jahr zu 100 Prozent eingelöst. Doch es lag auch an der politischen Dimension, dass die neue Wertung so spannend war. Hätte beispielsweise Kroatien am Ende Belgien vom ersten Platz verdrängt, wäre dem Publikum sicherlich nicht in gleicher Weise der Atem gestockt. Und es ist auch nicht garantiert, dass das neue System immer für Spannung sorgt. Die Webseite wiwibloggs.com hat sich die Mühe gemacht, das neue Wertungssystem auf die Jahre 2011 und 2012 zu projizieren. Das Ergebnis ist äußerst interessant: Der aserbaidschanische Sieg in Düsseldorf hätte sich als wahrer Wertungskrimi erwiesen, während Loreens Sieg bei den Zuschauern wohl kaum eine "Euphoria" ausgelöst hätte - so klar wäre ihr Vorsprung nach der Jurywertung bereits gewesen.
Kein Aushebeln der Publikumswertung
Die wichtigste Neuerung des Systems besteht wohl darin, dass die Jury dank der separaten Punktevergabe die Publikumswertung nicht völlig aushebeln kann. So bewerteten die Fachjuroren beispielsweise den polnischen Beitrag von Michał Szpak im Schnitt um ganze 12,6 Ränge schlechter als die Zuschauer - das ist neuer Rekord! Nach dem alten System hätte "Colour Of Your Life" somit kaum Chancen gehabt, aus der Kombi-Wertung Punkte zu erhalten und wäre mit 49 Zählern nur auf Platz 19 gelandet, wie die Webseite eurovisionsworld.com ausgerechnet hat. Allerdings wäre nach dem alten System auch der Wettbewerb anders ausgegangen: Statt der Ukrainerin Jamala hätte die Australierin Dami Im den Wettbewerb gewonnen. Für die Plätze 3 und 4 hätte es allerdings keine Veränderung bedeutet, weshalb die russischen Proteste aus statistischer Sicht haltlos sind.
Hätte, hätte, Fahrradkette
Überhaupt hat die Diskussion, welchen Sieger wir mit welchem Wertungssystem gehabt hätten, etwas von den Streitereien, die Kinder bei der Auslegung der Monopolyregeln führen - wenn ihnen das Ergebnis nicht passt, heißt es plötzlich: "Das spielen wir immer anders." Mit der gleichen Berechtigung könnte man sich auf noch ältere Abstimmungsverfahren berufen. Wir haben uns mal den Spaß gemacht, das Ergebnis nach den drei unterschiedlichen Wertungssystemen der Jahre 1962, 1963 und 1964 durchzurechnen. In allen drei Jahren hätte Australien den Sieg davongetragen (wenn es denn damals schon teilgenommen hätte), Russland hätte nur Platz 4 beziehungsweise 5 belegt. Frankreich dagegen wäre 1963 auf Platz 3 gelandet, 1964 auf Platz 11 und 1962 auf Platz 19. Welches Wertungssystem sich die Franzosen jetzt wohl zurückwünschen? Nur bei einem Land würde es leider gar keinen Unterschied machen: Deutschland läge bei allen Wertungssystemen auf dem letzten Platz.