Mohr: "Kandidaten und Songs haben viel Potenzial"
Auf dieser Bühne wird ESC-Geschichte geschrieben: Lena gewann hier vor sieben Jahren das Casting für "Unser Star für Oslo", und auch Roman Lob löste an diesem Ort im Jahr 2012 sein Ticket für den ESC in Baku. Und als wären die Fußstapfen, die hier hinterlassen wurden, nicht schon groß genug, singt die erste bei den Proben, Helene Nissen, einen Song von Country-Legende Johnny Cash - "Folsom Prison Blues“.
Mit Glücksschuhen aus Australien auf der Bühne
"Ich liebe Johnny Cash!“, sagt die mutige 20-Jährige aus Hollingstedt bei Schleswig. Helene hat ihren blonden Schopf zu einem Zopf gebunden. Sie trägt ihre freche Brille, ein schwarzes Kleid, Jeansweste und ihre roten Glücksschuhe aus Australien. Bei der ersten Probe des Johnny-Cash-Songs spürt man noch den Respekt vor der Bühne und den Kameras. Helene darf jeden Song dreimal üben. Und beim dritten Mal sitzt die Performance. Helene steht nicht allein vor der Kamera. Rechts von ihr spielt die Band, in der auch Musiker der Heavytones mitmischen. Es gibt kein Halbplayback beim Vorentscheid. Alles ist live - auch der Background-Chor, der hinter Helene steht. Auf der linken Seite komplettieren die Streichinstrumente das Bild. Insgesamt ist die Bühne in edlem Schwarz gehalten. Je nach Song wechselt die Beleuchtung sowie die LED-Projektion auf der gesamten Bühnenrückseite.
Jetzt wird es spannend, denn Helene performt die beiden extra für den Vorentscheid ausgewählten Songs. "Wildfire" wurde unter anderem von dem norwegischen Star Marit Larsen komponiert und - ebenso wie der zweite Song "Perfect Life“ - speziell für jeden einzelnen Künstler arrangiert. "Wildfire" klingt wirklich, als sei er Helene auf den Leib geschrieben. Der dynamische Song passt zur quirligen Helene. Sie kann ihr Temperament kaum zügeln und hüpft fröhlich im Takt, während sie den Blickkontakt zur Kamera sucht. "Perfect Life“ ist getragener, die Streicher kommen zum Einsatz. Der Song ist deutlich anspruchsvoller zu singen.
Schuhe die 2.: Jetzt sind sie golden
Nach gut einer Stunde ist Helene fertig, und die Bühne gehört nun Yosefin Buohler. Sofort wird klar, dass die 21-jährige Halbschwedin ein ganz anderes Naturell hat als Helene. Bei ihrem Beyoncé-Song "Love On Top" bewegt sich Yosefin selbstbewusst über die Bühne. Man merkt ihr die Erfahrung der Schauspielausbildung an. Sie blickt intensiv in die Kamera und formt ihre Hand mehrfach zu einer Faust. Sie will performen und sie kann performen. Auch die beiden Songs "Perfect Life" und "Wildfire" singt sie fehlerlos. "Ich hab ja auch zwei Wochen lang geübt!", sagt Yosefin lachend. Übrigens ist Yosefin riesiger ESC-Fan. "Das liegt wohl an meiner schwedischen DNA", sagt sie. Vielleicht hat sie sich genau deswegen entschieden, auf der Bühne goldene Schuhe zu tragen. Das war schon für die Herreys beim ESC 1984 in Luxemburg ein siegbringendes Accessoire.
Im Glitzeroutfit den Fokus auf die Songs gelegt
"Ich weiß zum Glück schon, wie es auf einer so großen Bühne läuft", sagt Felicia Lu, die als nächstes an der Reihe ist. Denn sie stand schon einmal im Finale einer großen Casting-Show. Und tatsächlich ist sie bei ihrem Coversong ganz bei sich. Sie singt eine intimere Version des Robyn-Hits "Dancing On My Own". Die Kamera konzentriert sich auf das hübsche Gesicht der 21-Jährigen aus dem bayerischen Freilassing. Mit der Kamera flirten kann sie gut. Felicia trägt ein regelrechtes Show-Outfit: Glitzer-Oberteil und Glitzer-Rock. Ansonsten ist ihre Performance reduziert. Auch bei "Wildfire" und "Perfect Life" steht Felicia nur vor dem Mikro und fokussiert sich auf den Gesang - als hätte sie das Studio ihres YouTube-Channels auf die Eurovisionsbühne verlegt.
Axel - Der Rocker des Vorentscheids
Und plötzlich wird alles anders: Axel Feige ist dran. Ein Mann wie ein Baum. Einen Kopf größer als Felicia, zwei Köpfe größer als Helene und mit seinen 29 Jahren auch deutlich älter als seine Konkurrentinnen. "Ich denke aber gar nicht an Wettbewerb", sagt der Hamburger und erklärt danach, was ihm wichtig ist: "Ich konzentriere mich darauf, aus meiner Sicht das Beste abzuliefern." Zwar trägt er einen grauen Anzug, doch er ist der Rocker vom Vorentscheid. Mit rauher Stimme und schlafwandlerischer Sicherheit performt er seinen Coversong "You Know My Name“ aus dem Bond-Film "Casino Royale". Die jahrelange Erfahrung als Straßenmusiker zahlt sich aus. Axels rockiger Sound ist für die Show eine erfrischend andere Klangfarbe, die sich auch im Arrangement seiner beiden Wettbewerbssongs wiederfindet. Insbesondere "Perfect Life" liegt ihm. Die erfolgsverwöhnte Komponistin des Songs, Lindy Robbins, würde es sicherlich gefallen, wie Axel ihr Werk interpretiert.
Mit Plan A zum Erfolg?
Während ihre Konkurrenten schon im Hotel chillen, geht es für Levina am Abend erst richtig los. Sie ist mit ihren 25 Jahren die "Lady" unter den Teilnehmern. Die hochgewachsene Berlinerin singt als erstes den Cover-Song "When We Were Young“ von Adele. Sie bewältigt den schwierigen Titel sehr gut. Man merkt, dass Levina seit Jahren in London lebt und arbeitet, weil sie die englischsprachigen Texte sehr glaubhaft performt. Ihre Version von "Wildfire“ ist fast schon bombastisch arrangiert, und Levina geht ganz und ganz nicht in dieser großen Inszenierung unter. Im Gegenteil: Sie scheint die Bühne und die Aufmerksamkeit zu genießen. Generell hat ihr Auftritt nichts Amateurhaftes. Kein Wunder, immerhin hat sie jahrelang Musik und Schauspiel studiert. "Musik ist mein Leben", sagt Levina. Dazu passt das Tattoo, das sie am rechten Unterarm trägt: "Plan A" steht dort. Ihr Plan A ist die Musik. Für Levina gibt keinen "Plan B".
Nach den Proben ist vor der Show
Als Fazit der Proben kann man jetzt schon beruhigt feststellen: Alle fünf Kandidaten machen erstens einen guten Job. Und zweitens: Beide Songs besitzen Hitpotenzial. Spannend ist jetzt, welcher Kandidat mit welchem Song das Rennen macht. Eine Entscheidungshilfe liefert eine hochkarätig besetzte Jury, bestehend aus Lena, Tim Bendzko und Florian Silbereisen, die allerdings nur beratenden Charakter hat. Ebenso wie die internationalen Fans, die über die App mit "Eurovision Vibes" ein Stimmungsbarometer liefern. Wer uns in Kiew vertritt, entscheiden einzig allein die Zuschauer vor dem Fernseher.