Abschied von der ESC-Jury?
Unverständlich, nicht nachvollziehbar, skandalös: Warum wurde der sensationell gute Auftritt von Ann Sophie in Wien mit null Punkten abgestraft? Waren politische Ressentiments im Spiel? Muss das Punktesystem geändert werden? Solche und ähnliche Fragen bewegen gegenwärtig die Nation und offenbaren in erster Linie eines: den deutschen Hang zur Nabelschau. Wenn jemand Grund hätte, sich über das Wertungsverfahren zu beschweren, sind das nämlich die Italiener. Ihnen wurde ein Rekordsieg geraubt - mit 366 Punkten im Televoting erhielt das Trio Il Volo sagenhafte 78,2 Prozent der Publikumsstimmen. So viel bekam nicht einmal Rekordsieger Alexander Rybak für sein "Fairytale" 2009 in Moskau.
Zweifel an der Juryentscheidung
Wer einen näheren Blick auf das Ergebnis des ESC in Wien wirft, dem kommen durchaus Zweifel, ob die Sache mit der Wiedereinführung der Jurys 2009 wirklich eine so gute Idee war. Zur Erinnerung: Die Jurys sollten ursprünglich verhindern, dass Bevölkerungsminderheiten durch exzessive Anrufe für ihr Ursprungsland das Televoting-Ergebnis verfälschen.
Das zumindest funktioniert sehr gut: In diesem Jahr haben Deutschland, Österreich, die Schweiz und Slowenien beispielsweise den albanischen Beitrag um über 20 Plätze schlechter bewertet als die Telefonabstimmer - Italien sogar um ganze 24 Plätze. Moment mal, war die Albanerin Elhaida Dani nicht im vergangenen Jahr "Voice of Italy"? Könnten unter Umständen daher auch nicht-albanischstämmige Mitbürger für den Casting-Star angerufen haben? Auch wenn die gesangliche Leistung der Albanerin im Finale sicherlich zu wünschen übrig ließ - 0 Punkte aus Italien stehen in keinem Verhältnis zur Popularität, die die Sängerin dort genießt.
Überhaupt stellt sich die Frage, warum die Stimmen der Migranten so wenig gelten, dass sie vom Votum der Jury völlig neutralisiert werden können. Gewiss: Die deutsche Wertung beispielsweise wurde in den vergangenen Jahren stark durch den türkeistämmigen Bevölkerungsteil der Bundesrepublik beeinflusst. Diesen Zuschauern ihr Mitspracherecht durch die Intervention einer Jury völlig zu nehmen, ist jedoch ausgesprochen unfair. Leben diese Menschen nicht schon seit vielen Jahren in ihren jeweiligen Gastländern? Sind sie nicht Teil der Gesellschaft? Und haben sie kein Anrecht auf einen eigenen Geschmack? Hier müsste eine Lösung gefunden werden, die auch die Meinung dieser Bevölkerungsminderheiten berücksichtigt. "Building Bridges" sieht auf jeden Fall anders aus.
Kann eine Fachjury unbefangen sein?
Auch die Zusammensetzung der Jury sorgt immer wieder für Konfliktstoff. In diesem Jahr beispielsweise wurde einem australischen Juror vorgeworfen, mit einem der Autoren des russischen Beitrags befreundet und damit befangen gewesen zu sein. Doch mal ehrlich: Wie unbefangen können Experten aus einer Musikindustrie sein, die weltweit von drei großen Plattenfirmen - Universal, Warner und Sony - dominiert wird?
Es wäre sicherlich sinnvoll, wenn in jeder Jury Vertreter aller drei Majors und eines unabhängigen Labels vertreten wären, doch selbst dann ist nicht gewährleistet, dass andere Erwägungen als rein musikalische in die Entscheidung der Experten einfließen. Mal ganz abgesehen davon, dass die gerne als Juroren eingesetzten ehemaligen ESC-Teilnehmer - z. B. Ryan Dolan für Irland oder Daniel Diges für Spanien - zwar einen Promistatus aber nicht auch zwangsläufig einen Expertenstatus besitzen.
Fakt ist: Ann Sophie wäre ohne Fachjury letztlich besser gefahren. Zwar haben die Experten den deutschen Beitrag insgesamt besser bewertet als das Publikum, doch durch das Korrektiv der Juroren sind uns ein polnischer und vier albanische Punkte durch die Lappen gegangen. Gewiss, das macht den Kohl nicht fett, zeigt aber, dass man dem Geschmack der Zuschauer auch durchaus mal vertrauen kann. Die Zuschauer sind übrigens auch diejenigen, die die dargebotenen Musikstücke hinterher kaufen sollen. Insofern ist eine serbische Jury, die den von Balkan-Star Željko Joksimović geschriebenen montenegrinischen Beitrag des Interpreten Knez auf Platz 1 setzt, deutlich näher am Puls des heimischen Publikums, als eine georgische, die den österreichischen Beitrag von The Makemakes um ganze 22 Plätze besser bewertet als die Fernsehzuschauer.
Zurück zur Meinungsforschung
Wenn es unbedingt eine Jury sein muss, sollte diese nicht in erster Linie prominent, sondern repräsentativ sein. So lieferten Marktforschungsunternehmen wie Infratest in der Vergangenheit ein recht präzises Stimmungsbild des deutschen Publikums. Dabei wurde ein repräsentativ ausgewählter Bevölkerungsteil telefonisch zu seiner Meinung befragt. Auch beim italienischen San-Remo-Festival ergänzt eine repräsentative Publikumsjury die Stimmen von Fachjuroren und Televoting. Hier liegen die Stellschrauben, mit denen die Abstimmung transparenter und fairer gestaltet werden könnte, denn eines ist sicher: Auf die mittlerweile sprichwörtlich gewordenen "12 Points" will niemand verzichten, oder?