Dalheimer über ESC-Acts: "Man sollte auffallen"
Wolfgang N. Dalheimer, 1967 in Birkenfeld geboren, war über viele Jahre eine prominente Figur im TV: als Bandleader und Arrangeur der Heavytones, der Studioformation, die bei Stefan Raabs "TV total" präsent war. Er begleitete den Weg von Max Mutzke 2004, den Siegeszug von Lena 2010 und zwei Jahre später Roman Lob auf seinem Weg nach Baku. Jüngst beriet er in einem Kölner Studio die Vorauswahl der Kandidaten für den deutschen Vorentscheid am 22. Februar in Berlin. Er machte dies ziemlich umsichtig, immer wieder fragte er, beispielsweise: "Wo fühlst du dich musikalisch zu Hause?" oder riet, sich treu zu bleiben und nicht in irgendetwas hineinzwängen zu lassen - und seien es nur die Klamotten oder andere äußere Erscheinungsmerkmale. Dalheimer lebt in Köln.
eurovision.de: Wolfgang Dalheimer, Sie haben drei deutsche ESC-Acts mit Ihren Heavytones hochgepäppelt: Max Mutzke, Lena und Roman Lob. Sie landeten alle weit vorn oder gewannen. Verraten Sie uns: Worauf kommt es bei einem ESC an?
Wolfgang N. Dalheimer: Man sollte auffallen. Anders gesagt: Man muss die Aufmerksamkeit auf sich ziehen können. Positiv auffallen mit etwas, das dem Publikum gefällt und das den jeweiligen Kandidaten von allen anderen unterscheidet. Und auf gar keinen Fall langweilen. Du musst es schaffen, dass zu Hause jemand von seinem Sessel aufsteht und eine bestimmte Nummer in sein Telefon eintippt, dafür noch bezahlt - und kein Auto gewinnen kann.
Sie meinen Auffallen mit Kostümen, Bühnennebel oder Ähnlichem?
Dalheimer: Alles kann irgendwie dazu gehören - oder auch nicht. Der Act muss in sich stimmig sein, musikalisch und vom Auftritt her. Ein gutes Beispiel hierfür ist Salvador Sobral, der Gewinner vom vergangenen Jahr. Er fiel mit einem sehr ruhigen Song und mit einer sehr reduzierten Performance auf. Alles hat gepasst, auch der Zeitpunkt . Das war ein "Strike"! So war es bei einer Nicole, Conchita Wurst oder auch einer Lena.
Beschreiben Sie uns diesen Coup des Portugiesen, bitte!
Dalheimer: Es war nur ein Bühnenbild im Hintergrund, es sang ein Sänger mit komischen Bewegungen, sogar einen reinen Instrumentalteil gab es in der Mitte, jedenfalls fehlte es an knalligen Drums oder gar Pyros, außerdem gab es keine Tänzer - für viele, die mit dem ESC vertraut sind, war unvorstellbar, dass ein solcher Künstler eine Chance haben könnte. Aber es war richtig, ihn und den Song so zu belassen, wie er wirklich ist. Diese drei Minuten waren voller Gefühl.
Ein glaubwürdiger Kandidat, hieß es danach.
Dalheimer: Ein Künstler, der auf der Bühne sein Lied nicht wirklich fühlt oder es ihm nicht nicht ernsthaft gefällt, wird kaum einen solchen Erfolg haben. Das Publikum spürt, wenn einer nicht "echt" ist oder sich nicht mit dem Song oder der Performance identifiziert. Zumindest ruft dafür kaum keiner an.
Es muss ein Schock gewesen sein für viele, dass der Portugiese Salvador Sobral gewinnen konnte, oder?
Dalheimer: Das weiß ich nicht. Auf jeden Fall war es ihm und seinem Team zu gönnen. Ich schätze, dass Salvador es nach dem sonst in Deutschland so üblichen Verfahren nicht geschafft hätte. Dazu gehört jedenfalls eine Menge Mut, auch der Verantwortlichen. Es ist wie im Tennis: Du musst alles riskieren, um den Titel holen zu können. Wenn du auf Sicherheit gehst, verlierst du. Ich wünsche mir also für den kommenden ESC mehr Mut - übrigens auch vom deutschen Publikum, das ja per Televoting mitbestimmt.
Voriges Jahr war Levina für Deutschland am Start. Woran hat es gelegen, dass sie nur Vorletzte wurde?
Dalheimer: Levina ist eine gute Künstlerin mit einer interessanten Stimme, ohne Frage. Aber der ganze Act war meiner Meinung nach in sich nicht stimmig, zu konstruiert, es wirkte irgendwie gekünstelt.
Wer hat's zu verantworten? Sie hatten ja "Perfect Life" mit ausgesucht.
Dalheimer: Als wir "Perfect Life" das erste Mal gehört haben, war es ein sehr reduzierter, pianolastiger, akustischer Song, der sich im Laufe seiner drei Minuten immer mehr steigerte.
Und?
Dalheimer: Sie kennen den Song ja. Es wurde ein unauffälliges Liedchen, bei dem die Interpretin keine Chance hatte, ihre künstlerische Kraft zum Ausdruck zu bringen. Der Mittelteil wurde in der Produktion rausgenommen, Melodien geändert, unnötigerweise Elemente aus anderen bekannten Mega-Hits hineinkopiert - der Song hatte keine Eigenständigkeit, keinen Höhepunkt, keine Momente, die das Publikum in den Bann hätte ziehen können. Die Plattenfirma setzte auf eventuelle Radiotauglichkeit und nicht auf die Gesetze des Eurovision Song Contests.
Und das heißt?
Dalheimer: Dass der Song "Perfect Life" so produziert wurde, dass er irgendwo nett im Hintergrund laufen kann, aber nicht wie ein Lied, welches in drei Minuten ein Millionenpublikum begeistert. Ein perfektes Leben hat vielleicht auch Höhen und Tiefen, Ecken und Kanten - das kam durch die Produktion nicht zum Ausdruck.
Wer hatte denn das Sagen?
Dalheimer: Die Plattenfirma dachte vielleicht, wenn der Song in Deutschland ein Hit wird, hat er auch auf europäischer Ebene eine Chance. Die Fehler wurden hauptsächlich in der Produktion gemacht. Die Ausgangsversion des Songs "Perfect Life" hatte schon alles und gab klar die Richtung vor. Deswegen wurde er ja auch von den Verantwortlichen ausgesucht. Leider wurden hier fünf verschiedene Versionen für fünf verschiedene Kandidaten gestrickt, die alle mit der ursprünglichen Fassung nichts mehr zu tun hatten. Meines Erachtens eine Fehlentscheidung des Verantwortlichen der Tonträgerfirma.
Große Firmen neigen auch dazu, Künstler zu entdecken und das, was sie wertvoll machen könnte, umgehend zu ändern. Ist das wirklich so?
Dalheimer: Schon. Und ich frage mich: Warum eigentlich? Wenn einem jemand positiv auffällt, wieso sollte der sich verändern? Etwas Besonderes wird abgehobelt wie ein störendes Element. Vielleicht hatte Andreas Kümmert 2015, als er in letzter Sekunde doch auf die Reise zum ESC verzichtete, damals auch einfach nur Angst, in Wien mit Lackschuhen aufzutreten zu müssen. (lacht)
Was wünschen Sie sich im Hinblick auf den deutschen Vorentscheid am 22. Februar?
Dalheimer: Ich kenne die Songs bis jetzt noch nicht, aber ich hoffe, dass dieses Jahr dem künstlerischen Potenzial mehr Chancen gegeben werden. Dass die sechs Künstler wirklich mit einem Lied antreten, mit dem sie sich wohlfühlen. Und mehr noch: dass sie das Lied auf der Bühne "leben". Erst auf den ESC setzen, das zählt. Tonträgerverkäufe kommen dann ganz von alleine.
Das Interview führte Jan Feddersen.