Nichts soll auf den Rollstuhl hinweisen
Wie würde man sie inszenieren, sie und ihr Lied "I Won't Break" beim Eurovision Song Contest in Lissabon? Wie gelingt es, eine Künstlerin ins Bild zu setzen, die voriges Jahr nicht nach Kiew durfte, weil sie als russische ESC-Kandidatin - nach der Okkupation der zur Ukraine gehörenden Halbinsel Krim - dort auftrat? Wie also würde Julia Samoylova in Portugal zu Werke gehen - die Sängerin, die die Eröffnungszeremonie der Paralympics von Sotschi 2014 mit bestritt? Würde es wieder, wie im Clip der Preview vor dem diesjährigen ESC, einen Eindruck geben, der vollkommen ignoriert, dass sie, was auch immer sie tut, auf einen Rollstuhl angewiesen ist?
Tänzer und Tänzerinnen umwickeln das Lied
Dienstagnachmittag, westeuropäische Zeit: Kurz nach der Mittagspause wird schließlich ihre erste Probe installiert. Das dauert länger als bei den anderen vor ihr probenden Künstlern, etwa Rasmussen aus Dänemark oder den Serben von Balkanika: Julia Samoylova, so sieht es im Bild schließlich aus, erhebt sich auf einem Hügel aus Pappmaché, vor ihr auf der Bühne nehmen ein Tänzer und eine Tänzerin Platz, an ihrer Seite, doch ziemlich entfernt, drei stimmstarke Choristen (zwei Frauen, ein Mann). Ihren Rollstuhl aber sieht man nicht, überhaupt ist von ihr merkwürdig wenig zu erkennen in der Inszenierung. Die Kameras rücken unentwegt von ihr ab, nehmen stattdessen die Tanzenden ins Visier. Das ist seltsam deshalb, weil der Eindruck entsteht, es solle darüber hinweg getäuscht werden, dass sie im Rollstuhl sitzt.
Das wäre, darf man anfügen, in Deutschland kaum denkbar. Corinna May, deutsche ESC-Kandidatin 2002 in Tallinn, machte kein Hehl daraus, dass sie nicht sehen kann. Julia Samoylova aber verschwindet mit ihrer Behinderung aus der Inszenierung: Das Publikum möge dies nicht erkennen können. Natürlich kann das auch gut gemeint sein seitens ihrer russischen Delegation und den dort arbeitenden Choreografen. Der Rollstuhl, den es bildlich nicht gibt, soll ihr keine Mitleidspunkte einbringen - was zählen soll, ist einzig die künstlerische Leistung.
Der Rollstuhl soll nicht ablenken
So sagt es jedenfalls auch Alexej Golubev, künstlerischer Direktor dieses Acts, zu eurovision.de: "Uns ging es darum, zu zeigen, was Julia künstlerisch zu sagen hat - und der Rollstuhl hätte von dieser Aussage abgelenkt, alle Aufmerksamkeit hätte sich auf diesen fokussiert. Dieses Lied erzählt ihr Leben, sie realisiert sich selbst einen Traum, der nun in Erfüllung geht - mit diesem Lied beim Eurovision Song Contest."
Auf die Frage an Julia Samoylova, weshalb sie, die doch kein Englisch spricht, dieses Lied nicht auf Russisch interpretiert, antwortet sie auf Russisch: "Mit jedem Wort dieses Liedes geht es um mich und meine Geschichte. Ich verstehe es alles sehr gut. Auf Russisch wäre es weniger Menschen möglich gewesen, das Lied zu begreifen."