Sind Finalprognosen für Stockholm möglich?
Viele haben in den vergangenen Tagen ESC-Abende veranstaltet oder waren Gäste bei diesen. Meine Runde gibt es seit fast 20 Jahren, und sie hat mit schönster Langeweile in den meisten Jahren die Sieger des ESC vorausgesagt. Mit einer Ausnahme: 2006 gab es in unserem Zirkel nur zwei, die Lordi ganz oben auf ihren Zetteln hatten. Die anderen erklärten sie für geistesgestört und ahnungslos. Nun, einige Zeit später, als in Athen die Hoffnungen von Texas Lightning auf eine Top-Ten-Platzierung zerstoben, hatten wir den Beweis: Außenseiter können goldrichtig liegen: Die Finnen waren die Darlings jenes Jahres.
Wettrunden haben natürlich immer den Charakter von astrologischen Kreisen. Man blickt nicht in eine Glaskugel, dafür auf einen Screen und guckt sich nicht an, was einem selbst gefällt, sondern was wohl den meisten gefallen wird. Man begibt sich in die Rolle der Gesamtzuschauer. Ähnlich ist es bei Befragungen von Demoskopie-Instituten vor politischen Wahlen: Man befragt nach repräsentativen Gesichtspunkten ausgesuchte Menschen nicht nur nach ihren persönlichen Vorlieben, sondern nach den Erwartungen, die sie im Hinblick auf das Gesamtergebnis haben.
Spekulationen über und über
ESC-Wettabende in der Zeit vor dem ESC dienen natürlich auch der Beruhigung der Nerven. Sie dienen der Einstimmung auf das Ereignis - und fast immer sagt irgendeiner: Das ist dieses Jahr wirklich ein schlechter Jahrgang! Auch das gehört zum Spiel. Gibt es eine Instanz, die verlässlich die wahrscheinlichen Resultate weissagen kann? Nein, gibt es nicht. Erfahrungsgemäß ist für das Finalergebnis die Liveperformance wichtig. Manche blühen auf und ernten Punkte, andere haben Vorschusslorbeeren im Gepäck - und fisteln und wispern am Mikro quälend rum, um sich schließlich schlecht platziert zu finden.
Sicher scheint mir, dass es 2016 unumschränkte Favoriten wie Alexander Rybak 2009 oder Loreen 2012 nicht gibt. Insofern: Das Prognostizieren ist ein schwieriges Geschäft.
Die meisten ESC-Fans gucken sich in den Tagen vor dem Grand Final die Seite "Oddchecker" an. Die Wetten, die dort einfließen, verweisen auf die möglichen Sieger (nicht die Lieblingstitel der Wetter). An der Spitze: Russland, schon seit Wochen, dahinter Frankreich, Schweden und Australien. Erst auf Platz 21 findet sich Jamie-Lee mit "Ghost". Andere Indikatoren für die Siegesqualität eines Titels müssen jedoch erwogen werden. Die Seite "escapenews.org" spiegelt ein aus dem Streamingdienst Spotify gewonnenes Resultat, in diesem Fall von Mitte April. Hier wiederum liegt Sergej Lazarev nicht vorn, sondern der Schwede Frans, dahinter Jamie-Lee. Zu bedenken ist, dass Spotify ein Angebot ist, das nicht überall im eurovisionären Europa konsumiert wird. Vor allem wenig in Osteuropa, dem mutmaßlichen Kerngebiet der Sympathien für den russischen Kandidaten. Auf YouTube wiederum ist zu ersehen, dass Russland viele Klicks auf sich vereinigen kann, das gelingt aber auch anderen Kandidaten.
Prognostiker irrten meist
Ich erinnere mich an das Jahr 2000, der ESC fand damals auch in der Stockholmer Arena Globen statt. Wochenlang lagen an den Wettbörsen die Lieder aus Estland und Norwegen vorn, mit der lettischen Band Brainstorm - die später Dritter wurde - rechnete man nicht, aber am wenigsten mit den dänischen Herren älteren Kalibers, den Olsen Brothers. Ihr "Fly On The Wings Of Love" lag noch vier Tage vor dem Finale jenseits der Top Ten. So viel zu den Prognosen.
In unserer Wettrunde lag übrigens der bislang niemals hoch gehandelte Ire vorne, der Russe landete bei uns auf dem dritten Platz, Jamie-Lee im vorderen Feld - aber der unumschränkte Sieger an diesem Abend war "If I Were Sorry" von Frans. Allein durch seine Art des wie gesprochen klingenden Gesangs hob er sich von all den pompösen Nummern ab. Möglicherweise ist das das wichtigste Siegesrezept: nicht so zu klingen wie alle anderen.