Von schwedischer Massenware und Außenseitern
Über die erstaunliche geographische Verteilung der Finalländer des diesjährigen ESC wird noch zu sprechen sein. Hier ist vor allem eines wichtig: Mit dem Schweden Måns Zelmerlöw ist der erklärte Favorit der Buchmacher, der Fans und der Schweden selbst ins Finale gekommen. Er absolvierte eine so typisch schwedische Show im zweiten Halbfinale, dass es einem vorkommen musste, als sei dieser Mann aus Lund in Südschweden kein echter Mensch, sondern ein eurovisionärer Avatar. Er saß millimetergenau vor der Plexiglaswand, auf der sich der Animationsfilm zu seinem Lied abspielte. Nur ein Stolperer - und seine Show hätte verpatzt gewirkt.
Perfekte Inszenierungen
Die schwedische Performance unterschied sich nur in Nuancen von jenen, die Eric Saade und Loreen abspulten. Perfekte Videoclips auf der Bühne, in denen die echten Sänger und Sängerinnen sich nur in den Rahmen der Inszenierung zu packen hatten. "Heroes" ist ein Titel wie vom Reißbrett, auf dem abgebildet wird, was ein Eurovisionact zu haben hat: Eine klare, simple Bühnensprache, ein nicht zu kompliziertes Arrangement, einen Refrain, der zum Mithoppeln geeignet ist und ein Interpret, der ein Geheimnis - besser eine Erweckung - spielt. Das schwedische Lied ist ein Schlager, und nichts weiter. Das ist keine Kritik, sondern nur eine Skizze dessen, wozu die schwedische Popindustrie in der Lage ist.
Song fehlt es an Substanz
Seit dem Erfolg von Abba ist eine Art Produktionsstube von Komponisten, Textern und Arrangeuren für den europäischen Markt entstanden. Herr Zelmerlöw ist deren aktueller Werbebotschafter: Sein Lied wird mutmaßlich im Finale gewinnen - und danach ein ähnliches Befremden bei den Musikhörern auslösen wie 1989 der Titel der jugoslawischen Gruppe Riva oder Eimear Quinn, Siegerin von 1996. Blutleere Erzeugnisse ohne Passion und Herz. "Heroes" ist als Lied das, was Kartoffelchips mit Hungrigen machen: Sie greifen in die Tüte und fühlen sich nach 500 Gramm Geröstet-Knusprigem so weit von Sättigung entfernt wie zuvor.
Trance-Trip-Hop-Kreischnummer im Finale
Dass die Jurys und Televoter in 20 Ländern nicht nur Musik von der Stange bevorzugen, lässt sich an der Finalqualifikation der Lettin Aminata Savadogo ablesen. Ihr Song "Love Injected" war eine krass exzentrische Trance-Trip-Hop-Kreischnummer, die haarscharf am höchsten Nervfaktor vorbeischrammte und es durch die disziplinierte und zugleich warme Sangesart der Künstlerin bis ins Grand Final brachte. Ihr Lied ist der Beleg für die ästhetische Zwiespältigkeit des ESC: Belohnt werden eben nicht nur Massenware, nicht nur perfektes Handwerk an den Arrangeurs-Reglern, sondern eben auch, gemessen am zuschauenden Massenpublikum, riskantes Werk. Für Lettland ist das ein Signal, sich Stilen und Haltungen zu nähern, die man in den besten Clubs - von Berlin über London, von Madrid bis Tel Aviv - kultiviert: welthaltige Coolness.