Jamala: "Wir müssen unsere Kultur wertschätzen"
Mit ihrem Titel "1944" sorgte die Ukrainerin Jamala unmittelbar nach ihrem Sieg bei der nationalen Vorentscheidung für internationales Aufsehen. Die Elektro-Soul-Ballade, die von der Deportation und Ermordung der Krimtataren unter stalinistischer Herrschaft handelt, wurde als politische Metapher für die Annexion der Krim durch Russland interpretiert. Kritiker forderten eine Disqualifikation der Sängerin. "Dr. Eurovision" Irving Wolther sprach mit Jamala in Amsterdam über ihren Beitrag.
Jamala, dein Song "1944" sorgt nicht nur unter den Fans für heftige Kontroversen. Wie politisch muss ein guter ESC-Beitrag deiner Meinung nach sein?
Jamala: (seufzt) Ich habe diese Frage schon erwartet. Mein Song ist ganz und gar nicht politisch gemeint, er erzählt nur einen Teil meiner Familiengeschichte, die Geschichte meiner Urgroßmutter, die Geschichte der Deportation der Krimtataren. Wissen Sie, selbst wenn ich über Sonnenschein, über Liebe oder sonst irgendetwas singen würde, hieße es anschließend, das ist politisch gemeint, nur weil ich Krimtatarin bin. Die ganze Diskussion dreht sich letztlich nicht um die Ereignisse von 1944, sondern nur darum, dass ich von der Krim stamme. Aus diesem Grund wird in den Text eine aktuelle politische Dimension hineininterpretiert, die so gar nicht vorhanden ist. Ich fahre als Sängerin und Komponistin nach Stockholm, nicht als Politikerin. Und ich denke, ich habe mir diese Chance redlich verdient.
Ein Teil deiner Familie lebt noch auf der Krim. Seit der Annexion der Halbinsel durch Russland hast du deine Angehörigen nicht mehr gesehen. Was würde passieren, wenn du sie besuchst?
Jamala: (atmet schwer) Ich weiß es nicht. Aber ich habe Angst, es zu versuchen …
Wovor hast du Angst?
Jamala: Ich vertraue den neuen Machthabern nicht. Sie erzählen ständig Lügen, sie haben den Menschen auf der Krim etwas vorgemacht. Viele Menschen sind spurlos verschwunden, nachdem sie gesagt haben, dass die Krim zur Ukraine gehört. Es tut mir weh, das zu sagen, aber ich fühle mich auf der Krim nicht mehr sicher.
Du verfügst über eine großartige Stimme und hast deinen Song auch selbst komponiert. Bedauerst du es ein wenig, dass deine stimmlichen und kompositorischen Fähigkeiten durch die politische Dimension deines Songs in den Hintergrund gerückt sind?
Jamala: Schon. Nachdem der "Skandal" (lacht) losging, war ich zunächst ziemlich bedrückt, denn ich habe diesen großartigen Song geschrieben, der so schwierig zu singen ist, weil er unterschiedliche Techniken wie Mugham (eine traditionelle aserbaidschanische Musikform, die zum Welterbe der Menschheit zählt, Anm. d. Red.) miteinander verknüpft, aber alle redeten nur von Politik. Mittlerweile haben sich die Wogen etwas geglättet und ich werde auch zu den künstlerischen Aspekten meiner Arbeit befragt. Das macht mich sehr glücklich.